»Das ist eine sehr interessante Einstellung, Herr Hartmann«, erwiderte Wireman kurz. »Ich glaube nicht, daß sie von allen Anwesenden geteilt wird. Zum Beispiel würde ich gerne hören, was John dazu zu sagen hat.«
Genovese blickte zu Boden. Es gelang Wireman nicht, ihm in die Augen zu schauen. Dann atmete er tief ein.
»Ed Stanley fragte, ob wir uns ausschließlich diesem Projekt widmen müßten, Herr Präsident. Sie erwähnten seine Nebenbeschäftigung. Ich glaube, hier ist der Haken.« Seine Stimme klang leise und ruhig. »Nun, Herr Präsident, vor langer Zeit habe ich Ihnen etwas versprochen. Nicht, daß ich es vergessen hätte, aber jetzt müssen wir auch noch etwas anderes in Betracht ziehen. Karl hat seinen Standpunkt ganz richtig vorgebracht. Ich bin Werkzeugmaschinen-Händler, bearbeite ein großes Gebiet, bringe wenigstens sechs Monate im Jahr auf der Straße zu, verdiene gut. Und nun kommt die Hauptsache: Tag für Tag bin ich Händler auf Cheiron, außer ein- oder zweimal im Monat. Dann nämlich komme ich auf wenige Stunden hierher, wenn ich in der Stadt bin. Nun frage ich: welche ist die Nebenbeschäftigung’?
Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich bin nicht ohne patriotisches Gefühl. Ich habe auch noch Verwandte auf der Erde. Wäre ich dort, ich würde ein Gewehr nehmen und alles in meiner Macht Stehende tun. Aber …«
»Schande!« schrie Yellin. »Schande! Nie hätte ich erwartet, in diesem Raum solchen Verrat zu hören!« Er zitterte vor Zorn.
Duplessis fiel ein: »Solange ihr hier Regierung spielen konntet, wart ihr zufrieden. Aber jetzt, wo es Arbeit gibt, überlaßt ihr sie uns — uns, über die ihr gespottet habt. Ihr, in euren komischen ausländischen Kleidern, mit dem barbarischen Akzent. Geht nur, geht zurück zu euren Banken und Büros, zu eurem Händler-Dasein! Geht zurück zu euren Fleischtöpfen! Wir brauchen euch nicht! Jene, die sich an ihre Heimat erinnern und auf diesen Tag gewartet haben, werden die Arbeit für euch tun — alt wie wir sind!«
Das Zimmer war voll zorniger Männer, sowohl auf der einen Seite, als auch auf der anderen.
»Meine Herren!« Wiremans zusammengepreßte Lippen waren kaum zu sehen, aber er hatte seine Stimme gut unter Kontrolle. Er wandte sich an Harmon. »Unser Kanzler hat noch nicht gesprochen.«
Harmon fühlte die zwingenden Augen auf sich gerichtet. Bewegungslos in ihren Stühlen sitzend, blickten sie sich an. Harmon dachte an die ersten Tage auf Cheiron. Nola war krank und lag nachts allein in ihrem Zimmer, während er zur Arbeit ging. Dann war sie gestorben, und er hatte trotzdem weitergeschuftet, weil er nicht hungern oder müßig dasitzen wollte. Nun hatte er Position, Wohnung und einen guten Ruf.
Es würde schwierig werden, das Kabinett zusammenzuhalten. Sie hatten eine Chance. Nützten sie diese nicht, war es vielleicht zu Ende mit ihren Hoffnungen auf eine freie Erde. Und dennoch: unter den gegebenen Umständen mußte ein Plan ja fehlschlagen. Diese kleine Gruppe geteilt, voller Bitterkeit, müde. Was sollte man da tun?
»Ich habe die Absicht, beim Präsidenten zu bleiben und für ihn zu arbeiten«, sagte er nach langer Überlegung und wußte, daß er wahrscheinlich einen schrecklichen Irrtum beging. »Ich versprach es.« Die Versuchung, das Gegenteil zu sagen, war sehr stark gewesen. Hartmann hatte ja recht. Sogar wenn der Plan gelänge, gäbe es für sie auf der Erde nichts, was man mit dem hier vergleichen könnte.
Wireman hob den Kopf. »Sehr gut, meine Herren, Sie haben gehört, was Tom gesagt hat. Nun, wer von Ihnen stimmt für den Vorschlag, General Hammil mit Waffen auszurüsten?« Erwartungsvoll schaute er sich um. Harmon ebenfalls — und zuckte zusammen. Dann seufzte er leise.
Eine eindeutige Mehrheit dagegen. Die Teilung schien genau so zu verlaufen, daß man erkennen konnte, wem es gelungen war, auf Cheiron Karriere zu machen, und wem nicht. Er war nun auf der Seite des alten Yellin und der anderen Einsiedler gelandet, mit denen er zwanzig Jahre lang nicht verkehrt hatte, und mußte jene Männer bekämpfen, die er verstanden hatte und die seine Freunde waren. Immer mehr wurde ihm bewußt, daß nicht einmal das geschlossene Kabinett ausgereicht hätte, diese Arbeit zu bewältigen. Jetzt gab es für ihn gar keinen Zweifel, daß sie auf alle Fälle unterliegen würden.
Er mußte es jedoch wenigstens versuchen. Er hatte es Wireman vor langer Zeit geschworen.
Dann sagte Wireman: »Gut. Tom, ich bitte Sie, aus Mr. Yellins Gruppe ein neues Kabinett zu bilden. Von den übrigen Herren erbitte ich den Rücktritt.« Sein Gesicht war aschgrau. »Ich habe keine andere Wahl.«
In panischer Angst erkannte Harmon, daß er sein Versprechen nicht würde halten können.
Eisiges Schweigen lag über dem Raum, bis Harmon herausplatzte: »Ralph! Das können Sie nicht machen!«
»Ich muß, Tom. Ich muß Leute haben, auf die ich mich verlassen kann.«
»Sie können nicht ein Kabinett aus sechs Mitgliedern bilden. Alle, wie wir hier versammelt sind, müssen zusammenarbeiten. Sechs Menschen können es einfach nicht schaffen, nicht sechs Menschen, die so müde sind wie wir. Das ist ja beinah — ja, es ist Selbstmord, und ein sicherer Fehlschlag obendrein.«
»Wir müssen es tun. Es ist für die Erde, für die Freiheit der Erde, und das ist wichtiger als die Tatsache, daß wir uns überarbeiten werden.«
Harmon schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte: »Zwanzig Jahre haben wir nun zusammengehalten, zwanzig hoffnungslose Jahre. Die Chance eines Erfolgs teilt uns nun.«
»Tom, haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Ralph. Seien Sie vernünftig!«
»Ich bin vernünftig. Und ich glaube, vernünftiger als Sie. Nun gut. Mr. Yellin, ich bitte Sie, eine neue Regierung zu bilden.«
Hintereinander marschierten sie schweigend den engen Korridor hinaus: Hartmann, Stanley, Genovese und der Rest. Harmon bildete den Abschluß. Er versuchte, nicht zuzuhören, was Wireman mit den anderen im Wohnzimmer besprach. Staatsangelegenheiten gingen ihn nichts mehr an. Als Harnes seinen Arm berührte, brauchte er einige Zeit, um zu reagieren. Dann sagte er: »Ja?« Er erinnerte sich nicht, was Harnes gesagt hatte.
Der Protokollchef wiederholte: »Entschuldigen Sie, Sir. Ihr letztes Gehalt — soll ich es wie üblich dem Befreiungsfonds zuweisen?«
Harmon nickte rasch. »Ja, ja, und das …« Er nahm die Brieftasche heraus und übergab Harnes fast das ganze Bargeld, das er bei sich hatte. »Fügen Sie das hinzu.«
»Ja, Sir. Sir, wissen Sie, er muß die Chance ergreifen, ob er will oder nicht.«
»Ich weiß. Auf Wiedersehen, Harnes.«
»Auf Wiedersehen, Sir.«
»Kommen Sie gelegentlich zum Dinner.«
»Danke, Sir. Aber er tut mir leid, unter diesen Umständen geht das jetzt nicht.«
»Nein — nein, ich glaube nicht.« Er trat auf den überfüllten Gang hinaus, und Harnes schloß die braune Tür hinter ihm. Als der Aufzug kam, konnten nicht alle einsteigen. »Geht nur«, murmelte Harmon, »ich werde warten.«
Er nahm den nächsten und stand allein steif in einer Ecke. Er fühlte sich so hilflos und niedrig, weil es ihm letzten Endes nicht gelungen war, sich über seine menschliche Natur zu erheben. Er hatte sich besser eingeschätzt. Was sollte er nun von sich halten?
Es war hoffnungslos, von dem Tag an, an dem wir die Erde verließen, dachte er. Wir hatten uns eingebildet, mehr als nur uns selbst zu retten: wir glaubten, ein Symbol zu verkörpern, auf das unser leidendes Volk seine Hoffnungen setzen, könne. Wir glaubten, ein Leitstern im Dunkel der Nacht zu sein. Aber wir irrten uns. Die Leute warten, ja, aber sie können nicht ewig warten. Sie müssen ihr Leben leben. Der Feind im Land ist gegenwärtiger als der Präsident auf Cheiron. Der Feind ist immer jung, immer da, immer leistungsfähig. Der Präsident wird älter, das Versprechen einer Rückkehr wird nicht eingehalten. Das Vertrauen läßt nach, letzten Endes bestimmt jeder einzelne sein eigenes Schicksal, und damit geht der Glaube an höhere Dinge endgültig verloren.