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Bruce Sutherland stand vor dem Spiegel und fragte sich, was eigentlich mit ihm los war. Mit ihm, einem Sutherland von Sutherland-Heights. Eine weitere ruhmreiche Karriere in einer langen Reihe ruhmreicher Karrieren, einer Reihe, die weiterging und so dauerhaft war wie England.

Doch in diesen letzten Wochen ging in Zypern irgend etwas vor sich. Etwas, das an seinen Nerven zerrte. Er stand vor dem Spiegel, sah in die schwimmenden Augen, die ihn aus dem Spiegel anblickten, und fragte sich, wo und wann das Ganze eigentlich angefangen hatte.

Sutherland: Guter Mann für jedes Team, hieß es in den Annalen von Eton. Sehr ordentlicher Knabe, dieser Sutherland. Familie, Ausbildung, Laufbahn, alles, wie es sein soll.

Zur Army? Das ist das Richtige, Bruce, alter Junge. Wir Sutherlands haben seit Jahrhunderten in der Army gedient, das ist echte Familientradition.

Standesgemäße Heirat. Neddie Ashton, die Tochter von Colonel Ashton, das war ein guter Griff. Kommt aus einem guten Stall, die Neddie Ashton. Sehr geeignet als Herrin des Hauses, diese Frau. Kennt alle Leute, die man kennen muß. Sie wird dir für deine berufliche Laufbahn eine große Hilfe sein. Passen großartig zusammen, die Ashtons und die Sutherlands.

Wo lag der Fehler? fragte sich Sutherland. Neddie hatte ihm zwei prächtige Kinder geschenkt. Albert war ein echter Sutherland, schon Captain in dem alten Regiment seines Vaters, und Martha hatte eine hervorragende Partie gemacht.

Bruce Sutherland nahm seinen Pyjama aus dem Schrank und zog ihn an. Er strich über den leichten Fettansatz in der Taillengegend. Gar nicht so schlecht für einen Mann von fünfundfünfzig.

Sutherland hatte im zweiten Weltkrieg eine rasche Karriere gemacht, verglichen mit dem langsamen und mühsamen Avancement in Friedenszeiten. Er war in Indien gewesen, in Hongkong, in Singapur und im Nahen Osten. Doch erst im Krieg hatte sich gezeigt, aus welchem Holz er geschnitzt war. Er erwies sich als ein ungewöhnlich befähigter Infanterie-Kommandeur. Bei Kriegsende war er Brigadier.

Sutherland zog seine Hausschuhe an, ließ sich langsam in einen Sessel sinken, schirmte das Licht ab — und die Gedanken an die Vergangenheit stiegen in ihm auf.

Neddie war ihm immer eine gute Frau gewesen. Sie war eine gute Mutter, eine hervorragende Gastgeberin, und sie war genau die richtige Frau für einen Offizier in den Kolonien. Er war sehr vom Glück begünstigt gewesen. Wann war der Riß in ihrer Ehe entstanden? Doch, er erinnerte sich genau. Das war in Singapur, vor vielen Jahren.

Er war damals Major, als er Marina begegnete, der Eurasierin mit dem olivfarbenen Teint. Dieser Frau, die geschaffen war für die Liebe. Jeder Mann trug tief in seinem Innersten verborgen das Bild einer Marina, doch seine Marina war aus Fleisch und Blut, war Lachen und Weinen, Glut und Leidenschaft, war Wirklichkeit. Mit Marina zusammen zu sein, war wie auf einem kochenden Vulkan zu leben, der jeden Augenblick ausbrechen konnte. Sie brachte ihn um den Verstand, er war verrückt nach ihr. Er machte ihr vor Eifersucht wütende Szenen, um sie im nächsten Augenblick, den Tränen nahe, um Verzeihung zu bitten. Marina — Marina. Die dunklen Augen und das rabenschwarze Haar. Sie konnte ihn quälen, konnte ihn entzücken. Mit ihr, durch sie erlebte er Höhen, von deren Existenz er bis dahin überhaupt nichts gewußt hatte. Bruce Sutherland erinnerte sich, was für ein fassungsloses und tief gekränktes Gesicht Neddie gemacht hatte, als sie ihm eröffnete, daß sie alles wußte.

»Es ist nicht so, daß mich diese Sache etwa nicht tief verletzt hätte«, hatte Neddie gesagt, zu stolz, um zu weinen, »doch ich bin bereit, zu vergeben und zu vergessen. Wir müssen schließlich an die Kinder denken, an deine Karriere — und an unsere Familien. Ich will versuchen, eine Form zu finden, irgendwie weiter mit dir zu leben, Bruce, doch du mußt mir schwören, daß du diese Person nie wieder siehst und daß du ein Gesuch um sofortige Versetzung von Singapur einreichst.«

Diese Person, wie du sie nennst, hatte Bruce gedacht, ist die Frau, die ich liebe. Sie hat mir etwas gegeben, was weder du noch tausend andere Neddies mir jemals geben könnten. Sie hat mir gegeben, was zu erhoffen kein Mann auf dieser Erde ein Recht hat.

»Ich möchte deine Antwort hören, Bruce.«

Antwort? Wie konnte die Antwort schon ausfallen. Sollte er etwa einem eurasischen Mädchen seine Karriere opfern? Dem Namen Sutherland Schande machen?

»Ich werde sie nie wiedersehen, Neddie«, hatte Bruce Sutherland versprochen.

Bruce Sutherland hatte sie nie wiedergesehen, doch er hatte auch nie aufgehört, an sie zu denken. Vielleicht war es das, womit alles angefangen hatte.

Die Sirenen waren nur noch sehr schwach zu hören. Die Wagenkolonne mußte schon ganz in der Nähe von Caraolos sein, dachte Sutherland. Bald würden die Sirenen schweigen, und dann konnte er schlafen. Er dachte an seine Pensionierung, die in vier bis fünf Jahren zu erwarten war. Der Stammsitz der Familie in Sutherland-Heights war für ihn allein viel zu groß. Er würde in einer kleinen Villa wohnen, vielleicht auf dem Lande. Es wurde allmählich Zeit, sich nach ein paar guten Settern für die Jagd umzusehen, sich Rosenkataloge schicken zu lassen und die Bibliothek zu vervollständigen. Es war zu überlegen, bei welchem Club in London er Mitglied werden sollte. Albert, Martha und seine Enkelkinder würden für ihn, wenn er in den Ruhestand trat, wirklich ein Trost sein. Und vielleicht — vielleicht würde er sich auch eine Geliebte zulegen.

Es schien sonderbar, daß er sich nach fast dreißigjähriger Ehe ohne Neddie zur Ruhe setzen sollte. Sie war all die Jahre so still, vornehm und reserviert gewesen. Sie war so taktvoll über seine Affäre mit Marina hinweggegangen. Und auf einmal, nachdem sie ihr ganzes Leben lang völlig korrekt gewesen war, brach sie hemmungslos aus, um die letzten Jahre zu retten, die ihr als Frau noch blieben. Ging mit irgend so einem Bohemien, der zehn Jahre jünger war als sie, auf und davon nach Paris. Alle Leute hatten großes Mitleid mit Bruce, dabei machte es ihm im Grunde wirklich nicht viel aus. Er hatte schon seit vielen Jahren keinerlei Berührung und nur wenig gefühlsmäßige Verbindung mit Neddie gehabt. Wenn sie meinte, sich austoben zu müssen, bitte sehr. Vielleicht würde er sie später wieder zu sich nehmen — doch vielleicht war eine Geliebte besser. Das Geräusch der Sirenen hörte endlich auf. Im Raum herrschte völlige Stille, und nur das dumpfe Murren der Brandung, die sich am Strande brach, war noch zu hören. Bruce Sutherland öffnete das Fenster und atmete in tiefen Zügen die kühle, frische Novemberluft. Er ging in das Badezimmer, nahm seine Zahnprothese heraus, säuberte sie und legte sie in ein Glas Wasser. Wirklich ein Jammer, dachte er, daß er diese vier Zähne hatte verlieren müssen. Das sagte er nun schon seit mehr als dreißig Jahren. Damals hatte er sie bei einem Rugby-Spiel eingebüßt. Er prüfte die anderen Zähne und stellte befriedigt fest, daß sie noch in gutem Zustand waren.

Er machte das Medizinschränkchen auf und musterte die Reihe der Flaschen. Er nahm eine Büchse mit Schlafpulver heraus und löste eine doppelte Dosis in Wasser auf. Er schlief in letzter Zeit schlecht. Sein Herz begann heftig zu klopfen, während er das Glas austrank. Er wußte, daß ihm wieder eine dieser entsetzlichen Nächte bevorstand. Verzweifelt versuchte er, die Gedanken loszuwerden, die in ihm aufstiegen. Er verkroch sich unter der Bettdecke und hoffte, rasch einschlafen zu können, doch schon begann es in seinem Kopf zu kreisen und zu wirbeln, immer rundherum, rundherum ... Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — NÜRNBERG! — NÜRNBERG! NÜRNBERG! NÜRNBERG! »Kommen Sie vor und nennen Sie Ihren Namen ...«

»Bruce Sutherland, Brigadegeneral, Kommandeur des ...«

»Zeuge, schildern Sie dem Gericht, aus eigener Anschauung ...« »Am 15. April, zwanzig Minuten nach fünf Uhr abends, rückten Teile der mir unterstellten Truppe in Bergen-Belsen ein.«

»Schildern Sie, aus eigener Anschauung ...«