Die zweite Welle kam hinter der ersten heran.
»Feuer zwei!«
Die zweite Welle blieb im Feuer liegen.
»Feuer drei!«
Der dritte Schuß sprengte den Lauf der Kanone, doch sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Mit drei Schuß ihrer Schrotladungen hatte sie annähernd zweihundert der Angreifer kampfunfähig gemacht. Der Schwung des Angriffes war erlahmt.
Ein letztes Mal versuchte der Gegner zu stürmen. Noch einmal erreichten hundert Araber den Rand Gan Dafnas, doch sie wurden von Jordanas Gadna-Kämpfern, die in den Schützengräben standen, mit einer zusammengefaßten Salve empfangen.
Blutend und verwirrt zogen sich die überlebenden Araber in wilder Hast durch die mit Toten besäte Schlucht zurück. Als Seew Gilboa sah, daß der Gegner wich, rief er den Palmach-Soldaten zu, ihm zu folgen. Mit seinen vierzig Mann setzte er mehreren hundert fliehenden Arabern nach. Er trieb sie über die Kuppe zurück und blieb ihnen weiter auf den Fersen.
Ari, der durch den Feldstecher sah, rief wütend: »Dieser verdämmte Idiot! Er versucht, Fort Esther zu nehmen. Ich hatte ihm gesagt, daß er bei der Kuppe haltmachen soll.«
»Was ist nur in Seew gefahren?« stieß David mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Los, komm mit«, rief Ari. »Wir müssen versuchen, ihn aufzuhalten.«
Ari gab Jordana eilig die Anweisung, mit ihrer Gadna-Gruppe die Waffen der gefallenen und verwundeten Araber einzusammeln und sich mit den Jugendlichen dann nach Gan Dafna zurückzuziehen.
Sein Plan hatte sich als richtig erwiesen. Zwar hatte er in weniger als fünfzehn Minuten den größten Teil seiner Waffen und seiner Munition verausgabt, doch lag fast die Hälfte von Kassis Truppen tot oder verwundet auf dem Schlachtfeld.
Mohammed Kassi sah, wie seine Leute zurück zum Fort flohen. Seew Gilboa war seinen Männern um fünfundzwanzig Meter voraus. Die arabischen Kanoniere von Fort Esther eröffneten das Feuer auf ihre eigenen fliehenden Leute, um den Palmach abzuwehren, der sie verfolgte. Einigen der Araber gelang es, in das Fort hineinzukommen. Die anderen, die den verfolgenden Juden zu nahe waren, wurden ausgesperrt und beschossen. Seew hatte inzwischen das äußere Stacheldrahtnetz passiert, das vierzig Meter von dem Fort entfernt war.
»Deckung!« schrie er seinen Leuten zu. Er warf sich auf den Boden und feuerte mit seiner Maschinenpistole auf die Schießscharten des Forts, bis seine Leute in Deckung waren. Als er erkannte, daß sein Angriff vergeblich war, machte er kehrt und versuchte, über den Hügel zurückzukriechen. Vom Fort kam jetzt aber ein Hagel von Geschossen, und Seew wurde getroffen. Er stand auf und begann zu laufen, wurde ein zweites Mal getroffen, fiel in den Stacheldraht und blieb hilflos darin hängen.
Seine Leute, die sich weiter hinten eingegraben hatten, wollten gerade wieder vorgehen, um Seew zu holen, als Ari und David bei ihnen ankamen.
»Da vorn ist Seew«, sagte man ihnen. »Er hängt im Stacheldraht.« Ari schaute aus seiner Deckung hinter einem großen Felsblock nach vorn. Bis zu Seew waren es hundert Meter über offenes Gelände. Hier und dort lagen zwar Felsblöcke, hinter denen er Deckung finden konnte, doch die letzte Strecke bis zu Seew war freies Feld.
Das Schießen von Fort Esther hörte plötzlich auf, und es wurde sehr still.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte David.
»Sie wollen Seew als Köder benutzen. Sie sehen, daß er bewegungsunfähig ist, und hoffen, daß wir versuchen werden, zu ihm zu kommen, um ihn zurückzuholen.«
»Diese Hunde — warum erschießen sie ihn nicht einfach?«
»Ist dir das denn nicht klar, David? Er hat seine Waffe verloren. Sie werden warten, bis wir uns zurückziehen, und dann werden sie versuchen, ihn lebend in ihre Hand zu bekommen. Sie werden an ihm für alle Leute Rache nehmen, die sie heute verloren haben.« »Mein Gott«, sagte David leise. Er sprang aus der Deckung, doch Ari schnappte ihn und zog ihn zurück.
»Gebt mir mal ein paar Handgranaten«, sagte Ari. »Gut. David, führe die Leute nach Gan Dafna zurück.«
»Ich lasse dich nicht allein dort hinaufgehen, Ari —.«
»Du tust, was ich dir befehle, verdammt noch mal!«
David wandte sich schweigend um und gab das Zeichen zum Rückzug. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, wie Ari bereits den Hügel hinauflief.
Die Araber beobachteten, wie Ari herankam. Sie wußten, daß jemand versuchen würde, den Verwundeten zu holen. Sie wollten warten, bis er nahe genug heran war, und versuchen, auch ihn zu verwunden. Dann würden die Juden noch einen Mann vorschicken — und noch einen.
Ari sprang auf, rannte einige Meter vor und warf sich hinter einem Felsblock flach auf die Erde. Vom Fort fiel kein Schuß.
Ari robbte weiter vor bis zur nächsten Deckung. Er war jetzt nur noch zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo Seew im Stacheldraht hing. Er nahm an, daß die Araber vorhatten, solange zu warten, bis er bei Seew angelangt war und ein nicht mehr zu verfehlendes Ziel bot.
»Zurück!« rief Seew. »Hau ab!«
Ari spähte vorsichtig um den Rand des Felsblocks, hinter dem er lag. Er konnte Seew jetzt ganz deutlich sehen. Das Blut lief ihm über das Gesicht, strömte aus seinem Leib. Ari richtete den Blick auf Fort Esther. Er sah, wie die Sonne auf den Läufen der Gewehre schimmerte, die auf Seew gerichtet waren.
»Zurück!« rief Seew noch einmal. »Meine Därme hängen 'raus. Ich hab' keine zehn Minuten mehr — hau ab!«
Ari machte die Handgranaten von seinem Koppel los.
»Seew — ich werfe dir ein paar Handgranaten zu«, rief er auf deutsch. Er stellte die Zündung von zwei Handgranaten fest, damit sie nicht explodieren konnten, erhob sich rasch und warf sie zu dem Verwundeten hin. Die eine landete unmittelbar neben Seew, der sie ergriff und an sich drückte.
»Ich habe sie — und jetzt hau ab!«
Ari lief, so rasch er konnte, den Hügel wieder hinunter. Die Araber, die darauf gewartet hatten, daß er bis zu Seew herankäme, waren so überrascht, daß sie das Feuer erst eröffneten, als er bereits außer Schußweite war und sich langsam wieder auf den Rückweg nach Gan Dafna machte.
Seew Gilboa war allein. Sein Leben ging zu Ende. Die Araber ließen eine halbe Stunde verstreichen. Sie warteten, ob die Juden irgend etwas unternehmen würden, um dem Verwundeten zu Hilfe zu kommen. Sie wollten ihn lebend in ihre Hände bekommen. Schließlich öffnete sich das Tor von Fort Esther. Einige dreißig Araber strömten heraus und kamen von verschiedenen Seiten auf den Verwundeten zu.
Seew riß die Zündung der Handgranate an und hielt sie dicht an seinen Kopf.
Ari hörte das Krachen der Detonation und blieb stehen. Er wurde kreidebleich. Er schwankte. Sein Zwerchfell zog sich krampfhaft zusammen. Dann kroch er auf Händen und Füßen weiter, zurück nach Gan Dafna.
Ari saß allein in dem Bunker, in dem sich sein Gefechtsstand befand. Sein Gesicht war bleich und starr. Nur das Zittern seiner Backenmuskeln ließ erkennen, daß Leben in ihm war. Seine Augen blickten stumpf aus dunklen Höhlen.
Die Juden hatten vierundzwanzig Leute verloren: elf Jungens und drei Mädchen vom Palmach, sechs Angehörige des Stabspersonals und vier Kinder. Dazu kamen zweiundzwanzig Verwundete. Von Mohammed Kassis Leuten waren vierhundertachtzehn tot und hundertsiebenundsiebzig verwundet.
Die Juden hatten soviel Waffen und Munition erbeutet, daß Kassi es kaum wagen würde, Gan Dafna noch einmal anzugreifen. Doch die Araber saßen nach wie vor in Fort Esther und beherrschten die Straße, die durch Abu Yesha führte.
Kitty Fremont betrat den Bunker. Auch sie war am Ende ihrer Kräfte. »Alle verwundeten Araber sind nach Abu Yesha gebracht worden, bis auf diejenigen, die Sie vernehmen wollten.«