Kitty war ziemlich groß, doch in Ari ben Kanaans Armen kam sie sich klein und hilflos vor. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl. Das plötzliche Auftauchen dieses athletischen, gut aussehenden Mannes hatte sie aus der Fassung gebracht. Und jetzt, in seinem Arm, nachdem sie ihn eben erst kennengelernt hatte, fühlte sie sich gelöst. Es war ein angenehmes Gefühl, wie sie es seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gehabt hatte. Gleichzeitig aber kam sie sich sehr töricht vor.
Der Tanz war zu Ende, und die beiden kamen zurück an den Tisch. »Ich dachte, bei Ihnen in Palästina würde nur Horra getanzt«, sagte Mark.
»Ich bin allzulange mit der westlichen Zivilisation in Berührung gewesen«, entgegnete Ari.
Die Sandwiches kamen, und er aß mit Heißhunger. Mark wartete geduldig darauf, daß ihm Ben Kanaan den Grund seines Besuches eröffnete. Er sah vorsichtig zu Kitty hin. Sie schien sich wieder einigermaßen in der Hand zu haben, obwohl sie Ari von der Seite her ansah, als sei sie auf der Hut und warte nur darauf, zuzuschlagen. Endlich hatte Ari gegessen und sagte beiläufig: »Ich hätte gern etwas mit Ihnen beiden besprochen.«
»Hier?« sagte Mark. »Inmitten der britischen Armee?«
Ari lächelte und sagte, zu Kitty gewandt: »Parker hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen zu erzählen, Mrs. Fremont, daß der Job, den ich habe, in gewissen Kreisen als suspekt angesehen wird. Die Engländer erweisen uns sogar immer wieder die zweifelhafte Ehre, uns als Untergrundbewegung' zu bezeichnen. Eines der ersten Dinge, die ich einem neuen Mitglied unserer Organisation immer einzuschärfen versuche, ist die Gefährlichkeit einer geheimen Zusammenkunft um Mitternacht. Meiner Meinung nach gibt es für das, was wir zu besprechen haben, keinen besseren Ort als diesen hier.«
»Ich schlage vor, daß wir in mein Zimmer hinaufgehen«, sagte Mark.
Sie hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Ari ohne Einleitung auf die Sache kam. »Hören Sie, Parker, Sie und ich wären in der Lage, uns gegenseitig einen wertvollen Dienst zu erweisen.« »Lassen Sie hören.«
»Sind Sie informiert über die Internierungslager bei Caraolos?« Mark und Kitty nickten.
»Ich bin eben fertig geworden mit der Ausarbeitung der Pläne für die Flucht von dreihundert Jugendlichen. Wir werden sie hierher bringen und auf ein Schiff verfrachten, das im Hafen von Kyrenia liegt.« »Ihr habt seit Jahren Flüchtlinge nach Palästina geschmuggelt; das ist nichts Neues mehr, Ben Kanaan.«
»Es wird etwas Neues sein, wenn Sie mir helfen, es dazu zu machen. Erinnern Sie sich, welchen Staub unser illegales Schiff, Das Gelobte Land, damals in der Öffentlichkeit aufgewirbelt hat?«
»Und ob ich mich erinnere.«
»Den Engländern war die Suppe damals ganz schön versalzen. Wir sind der Meinung, daß wir nur dann eine Chance haben, den Engländern die Fortsetzung ihrer Einwanderungspolitik in Palästina unmöglich zu machen, wenn es uns gelingt, einen weiteren Zwischenfall zu inszenieren, der ebensoviel Aufsehen erregt wie der von damals.«
»Ich bin leider nicht ganz mitgekommen«, sagte Mark. »Angenommen, es gelingt Ihnen, eine Massenflucht aus dem Lager von Caraolos zu organisieren — wie wollen Sie die Leute nach Palästina hinüberbringen? Und wenn es Ihnen gelingt, sie nach Palästina zu bringen — wo ist dann die Story?«
»Das ist genau der springende Punkt«, sagte Ari. »Sie sollen gar nicht bis nach Palästina kommen. Sie sollen nur hier in Kyrenia an Bord des Schiffes gehen.«
Mark beugte sich vor. Offensichtlich steckte mehr hinter Ben Kanaans Plan, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Die Sache begann ihn zu interessieren.
»Nehmen wir einmal an«, sagte Ari, »es gelingt mir, dreihundert Waisenkinder aus dem Lager herauszubekommen und hier in Kyrenia an Bord eines Schiffes zu bringen. Nehmen wir weiter an, die Engländer kommen dahinter und halten das Schiff im Hafen fest. Und nun nehmen wir einmal an, daß Sie bereits einen Bericht fertig haben, der in Paris oder New York vorliegt. In dem Augenblick, wo diese Waisenkinder an Bord gehen, bringt die Presse Ihren Bericht auf der ersten Seite.«
Mark stieß einen leisen Pfiff aus. Wie die meisten amerikanischen Korrespondenten, hatte er Mitgefühl mit Flüchtlingen. Er bekam seine Story, und Ben Kanaan bekam die Propaganda, die er haben wollte. Würde die Geschichte wichtig genug sein, daß es sich für ihn lohnte, einzusteigen? Er hatte keine Möglichkeit, Informationen einzuholen oder die Sache mit irgend jemandem durchzusprechen. Er mußte selbst und allein das Für und Wider abwägen und sich entscheiden. Ari hatte ihn nur einmal am Knochen riechen lassen, um seinen Appetit zu reizen. Wenn er weitere Fragen an ihn stellte, so konnte das bedeuten, daß er in die Sache verwickelt wurde. Mark sah Kitty an, der das Ganze völlig rätselhaft zu sein schien. »Wie wollen Sie es eigentlich fertigbringen, dreihundert Kinder aus dem Lager herauszubekommen und nach Kyrenia zu schaffen?« fragte sie.
»Soll das etwa heißen, daß Sie bereit sind, mitzumachen?«
»Das soll heißen, daß ich es gern wissen möchte, ohne mich dadurch zu irgend etwas zu verpflichten. Falls ich mich dagegen entscheide, so gebe ich Ihnen mein Wort, daß alles, was hier gesagt wird, unter uns bleibt.«
»Das genügt mir«, sagte Ari. Er setzte sich auf den Rand der Kommode und entwickelte seinen Fluchtplan Punkt für Punkt. Mark zog die Stirn in Falten. Der Plan war kühn, verwegen, ja geradezu phantastisch, dabei war er gleichzeitig von erstaunlicher Einfachheit. Was Mark betraf, so hatte er einen Bericht zu schreiben, ihn aus Zypern hinauszuschmuggeln und an das Pariser oder Londoner Büro des ANS gelangen zu lassen. Auf ein verabredetes Stichwort hin sollte dieser Bericht dann genau in dem Augenblick in der Presse erscheinen, in dem die Flucht stattfand. Ari schwieg, und Mark begann zu überlegen.
Er zündete sich eine Zigarette an, ging im Zimmer hin und her und stellte Ari in rascher Folge ein Dutzend Fragen. Doch Ari schien an alles gedacht zu haben. Ja, hier ergab sich unter Umständen wirklich eine Story, sogar eine sensationelle Serie. Mark versuchte abzuschätzen, welche Chancen dieser verwegene Plan hatte. Die Aussichten für das Gelingen waren bestenfalls fifty-fifty. Mark stellte dabei in Rechnung, daß Ari ein ungewöhnlich kluger Mann war, der die Mentalität der Engländer in Zypern genau kannte. Mark wußte auch, daß Ari Mitarbeiter besaß, die das Zeug dazu hatten, ein solches Unternehmen zum Erfolg zu führen.
»Ich mache mit«, sagte Mark.
»Freut mich«, sagte Ari. »Ich hatte mir gleich gedacht, daß Sie erkennen würden, was für Möglichkeiten hier stecken.« Dann wandte er sich an Kitty und sagte: »Mrs. Fremont — vor etwa einer Woche hat man Sie gefragt, ob Sie bereit wären, im Lager bei den Kindern zu arbeiten. Haben Sie sich die Sache überlegt?«
»Ich habe mich entschlossen, abzulehnen.«
»Würden Sie es sich vielleicht jetzt noch einmal überlegen — sagen wir, um Parker zu helfen?«
»Was haben Sie eigentlich mit Kitty vor?« fragte Mark.
»Alle Lehrer, Pflegerinnen und Pfleger, die von außen ins Lager kommen, sind Juden«, sagte Ari, »und wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß die Engländer diese Leute verdächtigen.«
»Wessen?«
»Der Zusammenarbeit mit unserer illegalen Organisation. Sie aber sind eine Christin, Mrs. Fremont. Wir meinen, daß sich ein Mensch Ihrer Herkunft und Religion unbehinderter bewegen könnte.«
»Mit anderen Worten, Sie wollen Kitty als Kurier verwenden.« »Mehr oder weniger, ja. Wir stellen im Lager eine große Menge gefälschter Ausweise her, die wir für draußen brauchen.«
»Mir scheint«, sagte Mark, »ich sollte Ihnen wohl besser mitteilen, daß ich mich bei den Engländern keiner allzugroßen Beliebtheit erfreue. Ich war kaum hier angekommen, als ich auch schon Sutherlands Adjutanten auf dem Hals hatte. Ich glaube zwar nicht, daß ich irgendwelche Schwierigkeiten haben werde, aber wenn Kitty jetzt im Lager Caraolos arbeitet, würden die Engländer höchstwahrscheinlich annehmen, sie arbeite dort für mich.«