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Karen drückte schläfrig ihre Lieblingspuppe an sich. Ihr Vater kniete neben ihr. In ihrem Halbschlummer roch sie den wunderbaren Geruch seiner Pfeife.

»Es wird eine sehr schöne Reise werden, Karen. Das ist genau, als ob du nach Baden-Baden führest.«

»Aber ich mag nicht, Pappi.«

»Hör mal, Karen — denk doch nur an all die netten Jungen und Mädchen, die mit dir fahren.«

»Ich will aber nicht mit ihnen fahren. Ich will hierbleiben, bei dir und Mammi und Hans und Maximilian. Und bei meinem neuen Brüderchen.«

»Na, na, Karen Clement! Meine Tochter wird doch nicht weinen.« »Ich will nicht weinen — ich will ganz bestimmt nicht weinen. Pappi — Pappi — werde ich auch bald wieder bei dir sein?«

»Ja, weißt du — wir werden uns alle Mühe geben —.«

Eine Frau näherte sich Johann Clement und berührte seine Schulter. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »es ist Zeit.«

»Ich setze sie in den Zug.«

»Tut mir leid — aber die Eltern dürfen nicht mit in den Zug.«

Er nickte, drückte Karen rasch noch einmal an sich, trat zurück und biß so fest auf seine Pfeife, daß ihm die Zähne weh taten. Karen ließ sich von der Frau bei der Hand nehmen, doch dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. Sie gab ihrem Vater ihre Stoffpuppe. »Pappi, nimm du mein Püppchen, es wird auf dich aufpassen.«

Scharen angsterfüllter Eltern drängten sich am Zug, und die abreisenden Kinder preßten ihre Gesichter gegen das Glas der Fenster, riefen, winkten, und suchten verzweifelt einen letzten Blick zu erhaschen.

Johann Clement suchte nach seiner Tochter, konnte sie aber nicht mehr sehen.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Eltern liefen nebenher und riefen ein letztes Lebewohl.

Professor Clement stand regungslos in der Menge. Als der letzte Wagen vorbeikam, hob er den Blick und sah Karen ganz ruhig und gefaßt auf der hintersten Plattform stehen. Sie legte die Finger an die Lippen und warf ihm eine Kußhand zu — als ob sie ahnte, daß sie ihn nie wiedersehen sollte.

Er sah ihr nach, sah die kleine Figur kleiner und kleiner werden, bis nichts mehr zu sehen war. Sein Blick fiel auf die Puppe, die er in der Hand hielt. »Leb wohl, mein Leben«, sagte er leise.

XII.

Aage und Meta Hansen bewohnten ein wunderschönes Haus in einem Vorort von Aalborg. Es war genau das richtige Heim für ein kleines Mädchen. Sie hatten keine eigenen Kinder. Die Hansens waren ein gut Teil älter als die Clements; Aage bekam schon graue Haare, und Meta war durchaus nicht so schön wie Mirjam; doch Karen fühlte sich dennoch wohl und sicher bei ihnen, vom ersten Augenblick an, als die beiden sie halb im Schlaf in ihr Auto getragen hatten.

Die Fahrt nach Dänemark war wie ein böser Traum gewesen. Sie erinnerte sich nur noch, daß rings um sie herum Kinder gesessen und leise vor sich hingeschluchzt hatten. Alles übrige war undeutlicher Nebel — sie hatten sich in Reihen aufstellen müssen, man hatte ihnen Zettel angesteckt, unbekannte Menschen hatten in einer unverständlichen Sprache zu ihnen gesprochen. Dann ging es in einen Warteraum, in einen Autobus, es gab einen neuen Zettel. Schließlich hatte man sie allein in den Raum geführt, in dem Meta und Aage Hansen standen und ungeduldig warteten. Aage nahm sie in die Arme und trug sie zum Wagen, und Meta hielt sie auf der ganzen Fahrt bis nach Aalborg auf ihrem Schoß, streichelte sie und sprach freundlich mit ihr, und Karen wußte, daß sie bei guten Leuten war.

Aage und Meta blieben erwartungsvoll an der Tür stehen, als Karen zögernd und auf Zehenspitzen in das Zimmer ging, das sie für sie eingerichtet hatten. Es war voll von Puppen und Spielsachen und Büchern und Kleidern und so ungefähr von allem, was sich ein kleines Mädchen überhaupt nur wünschen konnte. Doch dann entdeckte Karen den Wuscheligen jungen Hund auf ihrem Bett. Sie kniete sich neben ihn und streichelte ihn, und er leckte ihr das Gesicht, und sie spürte seine nasse Nase an ihrer Backe. Sie drehte sich um und lächelte den Hansens zu, und Aage und Meta lächelten zurück.

Die ersten Nächte ohne Pappi und Mammi waren schrecklich. Und es war sonderbar, wie sehr sie ihren Bruder Hans vermißte. Sie aß kaum und saß nur still für sich allein in ihrem Zimmer und streichelte den kleinen Hund, den sie Maximilian getauft hatte. Meta Hansen verstand das alles sehr gut. Abends saß sie bei Karen, streichelte sie und hielt ihre Hand, bis das leise Schluchzen aufgehört hatte und Karen eingeschlafen war.

In der darauffolgenden Woche kam ein nicht abreißender Strom von Besuchern, die Geschenke mitbrachten, mächtig viel Getue um Karen machten und in einer Sprache auf sie einredeten, die sie noch nicht verstehen konnte. Die Hansens waren sehr stolz, und Karen gab sich die größte Mühe, zu allen Leuten nett zu sein. Und ein paar Tage später wagte sie sich zum erstenmal aus dem Haus nach draußen.

Karen hatte Aage Hansen schrecklich gern. Er rauchte Pfeife, genau wie ihr Pappi, und er machte gerne Spaziergänge. Aalborg war ein interessanter Ort. Es gab da, wie in Köln, ein Wasser, das hieß der Limfjord. Herr Hansen war Rechtsanwalt und ein großer Mann, und beinahe alle Leute schienen ihn zu kennen. Er war natürlich kein so großer Mann wie ihr Pappi — aber das waren sowieso nur sehr wenige Leute.

Eines Abends sagte Aage: »Hör mal, Karen, du bist jetzt schon beinahe drei Wochen bei uns, und wir möchten gern etwas mit dir besprechen, etwas sehr Wichtiges.«

Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, schritt im Zimmer auf und ab und sprach zu ihr, auf eine ganz wunderbare Art, und so, daß sie auch alles sehr gut verstehen konnte. Er erzählte ihr, es gäbe jetzt in Deutschland so vieles, was gar nicht schön sei, und ihre Eltern meinten, es sei besser, wenn sie vorläufig erst einmal hier bei ihnen bliebe. Und dann sagte Aage Hansen, sie wüßten sehr gut, daß sie ihr niemals die Eltern ersetzen könnten, da aber Gott ihnen nun einmal keine eigenen Kinder gegeben habe, seien sie sehr glücklich, sie bei sich zu haben, und sie möchten gern, daß auch Karen glücklich sei. Doch, Karen verstand das alles sehr gut, und sie sagte Aage und Meta, sie hätte nichts dagegen, vorläufig erst einmal bei ihnen zu bleiben.

»Und noch etwas, Karen. Da wir uns dich nun für ein Weilchen ausleihen, und weil wir dich so gern haben, wollten wir dich fragen — würde es dir etwas ausmachen, wenn du dir unseren Namen ausleihst?«

Darüber mußte Karin nachdenken. Ihr schien, Aage hatte noch irgendwelche anderen Gründe. Seine Frage hatte diesen besonderen Ton gehabt, hatte so erwachsen geklungen — genau wie bei Mammi und Pappi, wenn sie hinter geschlossenen Türen miteinander geredet hatten. Dann nickte sie und sagte, ja, das wäre ihr auch recht.

»Schön! Dann heißt du jetzt also Karen Hansen.«

Aage und Meta nahmen sie bei der Hand, wie sie das jeden Abend taten, brachten sie in ihr Zimmer und machten die kleine Lampe an. Aage spielte mit ihr und kitzelte sie, und Maximilian sprang aufs Bett und tobte mit. Karen lachte, bis sie nicht mehr konnte, dann schlüpfte sie unter die Bettdecke und sagte ihr Abendgebet. »— und behüte Mammi und Pappi und Hans und mein kleines Brüderchen, und alle meine Onkel und Tanten und Vettern und Kusinen — und auch die Hansens, die so nett zu mir sind — und die beiden Maximilians.«

»Ich komme gleich und setze mich an dein Bett«, sagte Meta.

»Das ist nicht nötig. Du brauchst jetzt nicht mehr bei mir zu sitzen. Maximilian paßt auf mich auf.«

»Gute Nacht, Karen.«

»Sag mal, Aage, sind die Leute in Dänemark auch so böse auf die Juden?«

Meine liebe Frau Clement, verehrter Herr Professor, ist es wirklich schon sechs Wochen her, daß Karen zu uns kam? Sie ist ein erstaunliches Kind. Ihre Lehrerin hat uns erzählt, daß sie sich in der Schule sehr gut macht. Es ist kaum zu glauben, wie schnell sie Dänisch lernt. Wahrscheinlich kommt das daher, daß sie mit Gleichaltrigen zusammen ist. Sie hat schon viele Freundinnen hier. Der Zahnarzt riet uns, einen Zahn ziehen zu lassen, um Platz zu machen für einen neuen. Es war nicht weiter schlimm. Wir möchten gern, daß Karen Musikstunden bekommt, und werden Ihnen darüber noch genauer schreiben.