Jeden Abend schließt sie in ihr Gebet ...
Und dabei lag ein Brief von Karen, in Blockschrift:
LIEBE MAMMI, PAPPI, HANS, MAXIMILIAN, UND MEIN NEUES BRÜDERCHEN, ICH HABE SOLCHE SEHNSUCHT NACH EUCH, WIE ICH EUCH GAR NICHT SAGEN KANN —. Im Winter läuft man Schlittschuh auf dem Eis des Limfjords, baut Schneemänner und rodelt, und dann sitzt man am knisternden Kamin, und Aage reibt einem die eiskalten Füße.
Doch der Winter verging, der Limfjord taute auf, und das Land wurde grün und blühte. Und als der Sommer kam, fuhren alle an die Nordsee, nach Blockhus, und Karen fuhr mit Meta und Aage im Segelboot hundert Meilen weit hinaus auf das Meer.
Das Leben bei Hansens war schön und abwechslungsreich. Karen hatte eine Menge ,bester' Freundinnen, und sie fand es wunderbar, mit Meta zum Einkaufen auf den Fischmarkt zu gehen, wo es nach allem möglichen roch, oder mit ihr in der Küche zu sein und zuzusehen, wie man einen Kuchen bäckt. Und Meta konnte einem gut helfen bei so vielen Dingen, beim Nähen oder bei den Schularbeiten, und sie war ein so wunderbarer Trost, wenn Karen mal mit Fieber oder Halsschmerzen im Bett liegen mußte.
Aage hatte immer ein Lächeln für sie und offene Arme, und er schien beinah genauso klug und freundlich zu sein wie ihr richtiger Pappi. Aage konnte auch mächtig streng sein, wenn es mal nötig war.
Eines Tages, als Karen gerade zum Tanzunterricht war, rief Aage zu Hause an und bat Meta ins Büro zu kommen.
»Ich habe eben Nachricht vom Roten Kreuz bekommen«, sagte er zu seiner Frau. Er war sehr erregt, und sein Gesicht war blaß. »Sie sind alle miteinander verschwunden. Spurlos. Die ganze Familie. Ich habe alles versucht, aber ich bekomme keinerlei Auskunft aus Deutschland.«
»Und was vermutest du, Aage?«
»Was gibt es da zu vermuten? Man hat sie alle in ein Konzentrationslager gebracht — oder an einen noch schlimmeren Ort.«
»Oh, mein Gott!«
Sie brachten es nicht übers Herz, Karen zu erzählen, daß ihre ganze Familie verschwunden war. Karen schöpfte Verdacht, als keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, doch sie hatte zu große Angst, Fragen zu stellen. Sie liebte die Hansens und vertraute ihnen blind. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre guten Gründe haben mußten, wenn sie Karens Familie mit keinem Wort mehr erwähnten.
Außerdem geschah etwas Sonderbares. Gewiß, Karen hatte Sehnsucht nach ihren Eltern und Geschwistern, doch allmählich schien das Bild ihrer Mutter und ihres Vaters mehr und mehr zu verblassen. Wenn ein achtjähriges Kind so lange von seinen Eltern getrennt ist, dann wird es immer schwerer, sich an sie zu erinnern. Karen war manchmal traurig, daß sie sich nicht deutlicher erinnern konnte. Gegen Ende des Jahres konnte sie sich kaum noch vorstellen, daß sie einmal nicht Karen Hansen geheißen hatte und keine Dänin gewesen sein sollte.
WEIHNACHTEN 1939
In Europa war Krieg, und seit Karens Ankunft bei Hansens war ein Jahr vergangen. Karen sang mit ihrer glockenreinen Stimme ein Weihnachtslied, während Meta sie am Klavier begleitete. Dann ging Karen in ihr Zimmer und holte aus dem Schrank ein Paket, das sie dort versteckt hatte. Es enthielt das Weihnachtsgeschenk, das sie in der Schule gebastelt hatte. Stolz überreichte sie es Meta und Aage. Auf das Papier, womit es eingepackt war, hatte sie geschrieben: FÜR MAMMI UND PAPPI, VON EURER TOCHTER KAREN
8. APRIL 1940
Die Nacht war trügerisch und voll Verrat. Durch den Nebel drang das dumpfe Geräusch marschierender Truppen, die sich auf die dänische Grenze zu bewegten. Die dunstige Morgendämmerung brachte Fähre auf Fähre heran. Sie glitten lautlos durch die Nebelschwaden über das Wasser, beladen mit Soldaten in Stahlhelmen. Die deutsche Wehrmacht rückte an, schweigend und mit der Präzision eines Roboters, und überzog das ganze Land.
9. APRIL 1940
Karen und die anderen Mädchen aus ihrer Klasse stürzten an die Fenster und sahen nach oben zum Himmel, der schwarz war von dröhnenden Flugzeugen, die eins nach dem andern herunterkamen und auf dem Flugplatz von Aalborg landeten.
9. APRIL 1940
Die Menschen stürzten verwirrt auf die Straße.
»Hier spricht der Dänische Rundfunk. Heute früh vier Uhr fünfzehn hat die deutsche Wehrmacht bei Saed und Krussa die dänische Grenze überschritten!«
Völlig konsterniert durch das unerwartet schnelle Zuschlagen der Deutschen saßen die Dänen an ihren Radiogeräten und warteten verzweifelt auf eine Botschaft König Christians. Dann kam die Proklamation: Dänemark kapitulierte, ohne einen Schuß zu seiner Verteidigung abgegeben zu haben. Das Beispiel Polens hatte deutlich genug gezeigt, daß jeder Widerstand zwecklos war.
Meta Hansen holte Karen eilig aus der Schule nach Hause und packte die Koffer, um nach Bornholm oder irgendeiner anderen abgelegenen Insel zu fliehen. Aage beruhigte sie und redete ihr gut zu, erst einmal abzuwarten. Es würde Wochen oder gar Monate dauern, bis die Deutschen eine Zivilverwaltung in Gang bekämen. Der Anblick des Hakenkreuzes und der deutschen Uniformen ließ in Karen eine Fülle von Erinnerungen aufsteigen, und mit den Erinnerungen kam die Angst. Alle Leute waren in den ersten Wochen ängstlich und verwirrt; nur Aage blieb ruhig.
Die deutsche Besatzungsmacht und die deutsche Zivilverwaltung machten großartige Versprechungen. Die Dänen, so sagten sie, seien Arier. Die Deutschen betrachteten sie als ihre Brüder, und das Land hätten sie in erster Linie deshalb besetzt, um die Dänen vor den Bolschewisten zu schützen. Dänemark könne, so sagten sie, seine inneren Angelegenheiten weiterhin selbst verwalten. Dänemark sollte ein Musterprotektorat werden. Auf Grund dieser Zusicherungen traten, nachdem sich die anfängliche Erregung gelegt hatte, wieder annähernd normale Verhältnisse ein.
Der ehrwürdige König Christian nahm seine täglichen Ausritte vom Schloß Amalienborg in Kopenhagen wieder auf. Ohne jede Begleitung oder Bewachung bewegte er sich furchtlos durch die Stadt, und die Dänen folgten seinem Beispiel. Die Losung des Tages hieß: passiver Widerstand.
Aage hatte recht behalten. Karen besuchte wieder die Schule, ging zu ihrem Tanzunterricht, und das Leben in Aalborg nahm seinen gewohnten Gang, als sei überhaupt nichts geschehen.
Es kam das Jahr 1941. Seit der Besetzung durch die Deutschen waren acht Monate vergangen. Mit jedem Tag wurde es deutlicher, daß die Spannung zwischen den Deutschen und der Bevölkerung ihres »Musterprotektorats« wuchs. König Christian ärgerte die Eroberer, indem er sie nach wie vor nicht zur Kenntnis nahm. Auch die Bevölkerung ignorierte die Deutschen, soweit sie irgend konnte, oder aber, noch schlimmer, sie machte sich über die Wichtigtuerei der Deutschen lustig und quittierte ihre großsprecherischen Proklamationen mit Gelächter. Je lauter die Dänen lachten, desto wütender wurden die Deutschen.
Alle Illusionen, die sich die Dänen im Anfang der deutschen Besatzungszeit gemacht hatten, wurden sehr bald zerstört. Die dänische Industrie, die dänische Landwirtschaft und die geographische Lage Dänemarks waren in den deutschen Herrschaftsplan einbezogen. Dänemark sollte ein weiteres Rädchen der deutschen Kriegsmaschine werden. Gegen Mitte des Jahres 1941 hatte sich daher in Dänemark, wo man das Beispiel Norwegens, des skandinavischen Brudervolkes, vor Augen hatte, eine zahlenmäßig zwar noch geringe, aber sehr entschlossene Widerstandsbewegung gebildet. Reichsbevollmächtigter Best, Oberhaupt der deutschen Zivilverwaltung in Dänemark, war dem »Musterprotektorat« gegenüber für eine Politik der Mäßigung, solange die Dänen friedlich blieben und zur Mitarbeit bereit waren. Die Maßnahmen gegen die Dänen waren milde im Vergleich zu dem Vorgehen in den anderen besetzten Gebieten. Trotzdem wuchs die Widerstandsbewegung unaufhaltsam. Ihre Mitglieder konnten es zwar nicht wagen, die deutschen Truppen mit Waffengewalt zu bekämpfen oder eine allgemeine Erhebung zu planen, doch sie fanden einen Weg, ihrem Haß auf die Deutschen wirksamen Ausdruck zu verleihen. Dieser Weg hieß Sabotage.