»Ich liebe euch doch«, sagte Karen, lief in ihr Zimmer und warf sich schluchzend auf das Bett. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie den Hansens diese Sorge bereitete. Und auch noch aus einem anderen Grunde war sie mit sich unzufrieden. Sie wußte nichts über ihre Vergangenheit; jetzt aber verlangte es sie danach, darüber Klarheit zu erhalten. Einige Tage später begaben sie sich zu der internationalen Flüchtlingsorganisation.
»Das ist meine Pflegetochter«, sagte Aage.
Die Sachbearbeiterin, mit der sie sprachen, hatte in der kurzen Zeit seit der Befreiung schon viele Fälle wie den des Ehepaares Hansen und ihrer Pflegetochter Karen erlebt. Tag für Tag war sie gezwungen, Augenzeuge von Tragödien zu werden. Oberall, in Dänemark und Holland, in Schweden, Belgien und Frankreich erschienen Pflegeeltern wie die Hansens, die Kinder bei sich aufgenommen, sie verborgen, geschützt und aufgezogen hatten, um ihren bitteren Lohn zu empfangen.
»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Sache außerordentlich schwierig und nervenaufreibend ist, und daß es nicht so rasch gehen wird. Es gibt Millionen herumirrender Menschen in Europa. Wir haben keinerlei Ahnung, wie lange es dauern wird, die auseinandergerissenen Familien wieder zusammenzuführen.«
Sie teilten der Sachbearbeiterin alle ihnen bekannten Tatsachen mit, übergaben ihr eine Liste sämtlicher Verwandter Karens und die Briefe ihrer Eltern. Da Karen eine sehr zahlreiche Verwandtschaft hatte und ihr Vater ein prominenter Mann gewesen war, machte die Dame ihnen ein klein wenig Hoffnung.
Es verging eine Woche, dann eine zweite und schließlich eine dritte. Es wurde Juni und Juli. Für Aage und Meta waren es qualvolle Monate. Immer häufiger standen sie in der offenen Tür zu Karens Zimmer. Es war ein reizendes Jungmädchenzimmer. Ihre Schlittschuhe standen da, ihre Ballettschuhe, an der Wand hingen Bilder von Klassenkameradinnen und von Primaballerinen. Auch das Foto eines jungen Mannes, des Sohnes der Familie Petersen, für den sie schwärmte.
Schließlich wurden Hansens aufgefordert, in das Büro der Flüchtlingsorganisation zu kommen.
»Wir stehen vor der Tatsache«, sagte die Sachbearbeiterin, »daß alle von uns angestellten Nachforschungen bisher ergebnislos gewesen sind. Das bedeutet aber nichts Endgültiges. Die Sache ist eben schwierig und braucht Zeit. Wenn ich zu entscheiden hätte, so wurde ich Karen davon abraten, allein nach Deutschland zu reisen, ja, nicht einmal in Begleitung von Herrn Hansen. In Deutschland herrscht ein völliges Chaos, und Sie würden auch dort nichts ausfindig machen, was wir nicht ebensogut von hier aus ermitteln könnten.« Die Dame machte eine Pause, warf den Hansens und Karen einen scheuen Blick von der Seite zu und sagte dann zögernd: »Ich muß Sie vorsorglich auf etwas aufmerksam machen. Wir bekommen täglich mehr und mehr Meldungen, aus denen hervorgeht, daß etwas ganz Schreckliches geschehen ist. Eine große Anzahl von Juden ist umgebracht worden. Es hat allmählich den Anschein, daß es sich um Millionen handelt.«
Das war für die Hansens ein nochmaliger Aufschub. Doch welch entsetzlicher Aufschub! Sollten sie Karen nur deshalb behalten dürfen, weil mehr als fünfzig ihrer nächsten Angehörigen umgebracht worden waren? Die Hansens wurden unschlüssig hin-und hergerissen. Die Entscheidung kam von Karen selbst.
Bei aller Liebe und Zuneigung, die sie für Aage und Meta Hansen empfunden und von ihnen empfangen hatte, war zwischen ihnen immer eine seltsame, unsichtbare Barriere gewesen. Im Anfang der deutschen Besatzung, als Karen erst acht Jahre alt gewesen war, hatte Aage ihr gesagt, sie dürfe nie darüber sprechen, daß sie Jüdin sei, weil sie dadurch ihr Leben gefährden würde. Karen hatte sich daran gehalten, genau wie sie auch sonst Aage in allem gehorchte, da sie ihn liebte und ihm vertraute. Dennoch aber mußte sie immer wieder darüber nachdenken, wieso sie eigentlich anders war als andere Leute, und wieso sie durch diese ihr nicht verständliche Andersartigkeit ihr Leben gefährde. Da sie nie danach fragen konnte, hatte sie auch niemals Aufschluß darüber bekommen. Dazu kam, daß Karen keinen Kontakt mit anderen Juden gehabt hatte. Sie fühlte sich nicht anders als andere Dänen, und sie wußte, daß sie auch nicht anders aussah als sie. Dennoch gab es eine unsichtbare, trennende Schranke.
Vielleicht hätte dieses Problem eines Tages von selbst aufgehört, sie zu beschäftigen, doch Aage und Meta erinnerten Karen, ohne es zu wissen und wollen, immer wieder daran. Sie waren gläubige und eifrige Lutheraner, gingen jeden Sonntag mit Karen zur Kirche, und jeden Abend vorm Zubettgehen las Aage aus dem Buch der Psalmen vor. Karen hütete die kleine, in Schweinsleder gebundene Bibel, die sie zu ihrem zehnten Geburtstag von den Hansens geschenkt bekommen hatte, wie einen Schatz, und sie las begeistert die wunderbaren und märchenhaften Geschichten, besonders die aus dem Buch der Richter, dem Buch Samuel und dem Buch der Könige. In der Bibel zu lesen, das war genauso aufregend und wunderbar, wie in Andersens Märchen.
Doch in der Bibel war so vieles, was Karen nicht verstand, was sie beunruhigte. Oftmals wünschte sie sich, mit Aage über alles sprechen zu können. Jesus war ja auch Jude gewesen und seine Mutter und alle seine Jünger waren Juden. Das ganze Alte Testament, das Karen besonders faszinierend fand, handelte ausschließlich von den Juden. Und hieß es nicht immer wieder, daß die Juden das Volk waren, das Gott auserwählt hatte?
Wenn das wahr war, wie konnte es dann so gefährlich sein, Jude zu sein, und woher kam es dann, daß die Juden so gehaßt wurden? Je älter Karen wurde, desto intensiver suchte sie nach einer Antwort auf diese Fragen. Als sie vierzehn war, konnte sie sich schon vieles von dem, was in der Bibel stand, zurechtlegen und ausdeuten. Fast alles, was Jesus gelehrt hatte, war schon im Alten Testament niedergelegt. Und das war das größte von allen Rätseln: sollte Jesus erneut auf die Erde kommen, so würde er, das stand für Karen fest, bestimmt lieber in eine Synagoge gehen als in eine Kirche. Wie konnten Menschen Jesus verehren und Gottes auserwähltes Volk hassen?
An ihrem vierzehnten Geburtstag ereignete sich noch etwas anderes, was Karen aufmerksam und nachdenklich machte. In diesem Alter wurden die dänischen Mädchen konfirmiert, und die Konfirmation war eine feierliche und festliche Sache. Karen war als Dänin und als Christin herangewachsen, dennoch hatten die Hansens wegen der Konfirmation Bedenken. Sie sprachen darüber, und Aage und Meta waren sich einig, daß sie keine Entscheidung fällen könnten in einer Frage, die bereits durch Gott entschieden war. So sagten sie Karen eines Abends, daß sie die Konfirmation mit Rücksicht auf den Krieg und die Unsicherheit der Verhältnisse lieber verschieben wollten. Doch Karen ahnte den wahren Grund.
Als sie damals zu den Hansens gekommen war, hatte sie nach Liebe und nach Schutz verlangt. Jetzt aber hatte sie ein größeres Verlangen: sie wollte wissen, woher sie kam und wer sie war. Und sie wollte wissen, was es eigentlich bedeutete, Jude zu sein. All diese brennenden Fragen hatte sie bisher verdrängt, um für immer als Dänin unter Dänen leben zu können. Jetzt war ihr das nicht mehr möglich.
Als sich der Krieg seinem Ende näherte, begriff Karen, daß sie nicht bei den Hansens bleiben konnte, und sie bereitete sich innerlich auf den Schock der unvermeidlichen Trennung vor. Karen Hansen zu sein, das war nur eine Rolle, die sie gespielt hatte. Jetzt wurde es für sie eine Sache von höchster Wichtigkeit, Karen Clement zu werden. Sie versuchte, Einzelheiten ihrer Vergangenheit zu rekonstruieren, sich an ihren Vater zu erinnern, an ihre Mutter und an ihre Brüder. Erinnerungen tauchten wieder vor ihr auf, undeutlich und ohne Zusammenhang. Immer wieder stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn sie wieder mit ihren Eltern und Geschwistern vereint wäre.