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Die Peitschenhiebe! Die Eisbäder! Der elektrische Stuhl!

Die Lötkolben! Massenmord!

Waren sie im Lager von Choisel oder Dora gewesen, in Groß-Rosen oder Neuengamme, oder hatten sie den »Todestango« in Janowka hören müssen?

War ihre Familie unter den Toten, deren Körper in Danzig zu Seife verarbeitet wurden?

Der Tod verfolgte die »displaced persons« im Lager von La Ciotat in der Nähe von Marseille in Frankreich.

Karen konnte weder essen noch schlafen. Immer neue Namen hörte sie aus dem Land des Grauens. Kivioli, Warka, Magdeburg, Plaszow, Trzebynia, Mauthausen, Sachsenhausen, Oranienburg, Landsberg, Bergen-Belsen, Rensdorf, Blizin.

Flossenburg! Ravensbrück! Natzweiler!

Doch alle diese Namen waren harmlos, verglichen mit Auschwitz! Auschwitz, mit seinen drei Millionen Toten! Mit seinen Magazinen, die bis unter die Decke mit Brillen angefüllt waren, mit Schuhen, mit Kleidung, mit Puppen und mit riesigen Ballen menschlichen Haares zur Herstellung von Matratzen! Auschwitz, wo die Goldzähne der Toten sorgfältig gesammelt und eingeschmolzen wurden. Auschwitz, wo besonders wohlgeformte Totenschädel präpariert und als Briefbeschwerer verwendet wurden; Auschwitz, über dessen Eingangstor ein Schild hing mit der Inschrift: ARBEIT MACHT FREI.

Karen Hansen-Clement versank in tiefe Melancholie. Sie hörte und sah, bis sie nichts mehr sehen und nichts mehr hören konnte. Sie war erschöpft und verwirrt, und willenlos. Und dann, wie so oft, wenn man am Ende zu sein glaubt, kam die Wendung, und es ging aufwärts.

Es begann damit, daß sie einem elternlosen Kind zulächelte und über das Haar strich, und das Kind die Wärme ihres Mitgefühls spürte. Karen vermochte Kindern das zu geben, wonach sie am meisten verlangten: Zärtlichkeit. Sie flogen ihr zu. Karen schien instinktiv zu wissen, wie man eine Nase putzt, ein Wehweh heilt oder eine Träne trocknet, und sie konnte in vielen Sprachen Geschichten erzählen und Lieder am Klavier singen.

Sie stürzte sich mit einem Eifer in die Arbeit, nahm sich der kleineren Kinder so völlig an, daß sie darüber sogar den eigenen Schmerz ein wenig vergaß. Ihre Geduld war unermüdlich, und immer hatte sie Zeit und Kraft für andere.

In La Ciotat verlebte sie ihren fünfzehnten Geburtstag. Gewiß, Karen war halsstarrig, aber sie klammerte sich voller Zuversicht an zwei große Hoffnungen. Ihr Vater war ein prominenter Mann, und die Nazis hatten ein Lager gehabt, in dem die Häftlinge weder gequält noch umgebracht wurden. Das war das Lager Theresienstadt in der Tschechoslowakei. Falls man ihn dorthin gebracht hatte, was durchaus möglich war, dann konnte er noch am Leben sein. Die andere, allerdings schwächere Hoffnung war, daß man viele Wissenschaftler heimlich aus dem Land herausgebracht hatte, auch nachdem sie bereits in Konzentrationslager gekommen waren. Diesen vagen Hoffnungen stand die bestätigte Gewißheit gegenüber, daß mehr als die Hälfte ihrer Verwandten ums Leben gekommen war.

Eines Tages kamen mehrere Dutzend Neuzugänge, und das ganze Lager schien über Nacht völlig verwandelt. Diese Neuen, Mitglieder der Organisation Mossad Aliyah Bet und Palmach, kamen aus Palästina, um die innere Organisation des Lagers in die Hand zu nehmen.

Einige Tage nach ihrer Ankunft tanzte Karen für ihre kleinen Schützlinge, zum erstenmal wieder seit dem Sommer. Von diesem Augenblick an wurde sie immer wieder aufgefordert, zu tanzen, und bald gehörte sie zu den populärsten Insassen des ganzen Lagers. Ihr Ruhm drang sogar bis nach Marseille, wohin sie fahren mußte, als sie aufgefordert wurde, in der Weihnachtsaufführung die Nußknacker-Suite zu tanzen.

WEIHNACHTEN 1945

Die Einsamkeit des ersten Weihnachtsfestes fern von den Hansens war schrecklich. Die Hälfte der Kinder von La Ciotat waren nach Marseille gekommen, um Karen tanzen zu sehen, und Karen tanzte an diesem Abend, wie sie noch nie getanzt hatte.

Nach der Vorstellung kam ein Mädchen aus Palästina, eine Palmach-Angehörige namens Galila, die    in    La    Ciotat Gruppenführerin war, zu Karen und bat sie, zu warten, bis alle gegangen waren. Galila liefen die Tränen über die Wangen, während sie sagte:

»Karen — wir haben soeben die Bestätigung bekommen, daß deine Mutter und deine beiden Brüder in Dachau umgebracht worden sind.«

Karen versank in noch tieferen Gram    als    zuvor.    Der unerschütterliche Mut, der sie bisher aufrechterhalten hatte, verließ sie. Es war ein Fluch, als Jüdin geboren zu sein, und nur dieser Fluch, so schien es ihr, hatte sie den wahnsinnigen Entschluß fassen lassen, aus Dänemark wegzugehen.

Allen Kindern in La Ciotat war eines gemeinsam. Sie alle glaubten daran, daß ihre Eltern noch lebten. Und alle warteten auf ein Wunder, das sich aber nie ereignete. Was für ein Narr war sie gewesen, an dieses Wunder zu glauben!

Als sie nach mehreren Tagen wieder einigermaßen zu sich kam, schüttete sie Galila ihr Herz aus. Sie meinte, es würde über ihre Kraft gehen, untätig dazusitzen und auf die Nachricht zu warten, daß auch ihr Vater tot sei.

Galila, das Mädchen aus Palästina und ihre einzige Vertraute im Lager, war der Meinung, daß Karen, wie alle Juden, nach Palästina gehen sollte. Palästina sei der einzige Ort, wo    man als Jude ein menschenwürdiges Leben führen könne, erklärte Galila.    Doch Karen, deren Hoffnung vernichtet war, wollte vom ganzen Judentum nichts mehr wissen; denn es hatte ihr nur Unglück gebracht, und von ihr übriggeblieben war einzig eine Dänin, Karen Hansen. Nachts schlug sich Karen mit der gleichen Frage herum wie jeder Jude, seit vor zweitausend Jahren der Tempel in Jerusalem zerstört und die Juden in alle vier Winde zerstreut worden waren, um seitdem ruhelos über die Erde zu wandern. Sie fragte sich: »Warum gerade ich?«

Mit jedem Tag kam sie dem Augenblick näher, da sie den Hansens schreiben wollte, um sie zu bitten, für immer zu ihnen zurückkehren zu dürfen.

Dann aber kam eines Morgens Galila in Karens Baracke gestürzt und zerrte sie zum Verwaltungsgebäude, wo Karen mit einem Mann namens Dr. Brenner bekannt gemacht wurde, einem Flüchtling, der neu nach La Ciotat gekommen war.

»O mein Gott!« rief Karen, als sie die Nachricht erfuhr. »Sind Sie sicher?«

»Ja«, sagte Dr. Brenner, »ich bin völlig sicher. Sehen Sie, Ihr Vater ist ein alter Bekannter von mir. Ich hatte einen Lehrstuhl in Berlin. Wir haben häufig miteinander korrespondiert, und wir haben uns auf Tagungen getroffen. Ja, Sie können mir glauben, wir waren zusammen in Theresienstadt, und ich habe ihn noch kurz vor Kriegsende dort gesehen.«

XV.

Eine Woche später bekam Karen einen Brief von den Hansens, mit der Mitteilung, daß die Flüchtlingsorganisation um Auskunft über Karens Aufenthalt gebeten und außerdem angefragt habe, ob das Ehepaar Hansen irgend etwas über Karens Mutter oder ihre Brüder wüßte.

Man nahm an, daß die Anfrage von Johann Clement kam oder von jemandem, der in seinem Auftrag handelte. Karen schloß daraus, daß ihr Vater und ihre Mutter voneinander getrennt worden waren, und ihr Vater keine Kenntnis vom Tod ihrer Mutter und ihrer Brüder hatte. Der nächste Brief von den Hansens teilte mit, daß sie zwar geantwortet hätten, die Flüchtlingsorganisation aber den Kontakt mit Clement verloren habe.

Er lebte! Die vielen und langen Monate, die sie in den Lagern in Schweden, in Belgien und in La Ciotat zugebracht hatte, hatten sich also doch gelohnt! Noch einmal fand sie den Mut, nach ihrer Vergangenheit zu forschen.