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Unter den Bewohnern des Ghettos brach eine Panik aus. Einzelne Juden gaben ihr ganzes Vermögen, um Nahrungsmittel dafür einzutauschen. Andere versuchten zu fliehen und sich in den Häusern von Christen zu verbergen; doch die meisten dieser Versuche endeten entweder mit dem Tod oder damit, daß die Juden von den Menschen außerhalb des Ghettos betrogen und verraten wurden. Innerhalb des Ghettos entwickelte sich das Leben mit jedem Tag mehr und mehr zu einem Kampf um die nackte Existenz.

Die Zwangslage wies Mundek Landau eine Führerrolle zu. Durch seinen Einfluß bei den Bauleuten erhielt er vom »Judenrat« die Konzession zum Betrieb einer der wenigen Bäckereien des Ghettos. So konnte seine Gruppe einigermaßen verpflegt werden und am Leben bleiben.

Doch auch im Ghetto gab es vereinzelte Lichtblicke. Ein sehr gutes Sinfonieorchester veranstaltete wöchentlich Konzerte, es gab Schulen mit regelmäßigem Stundenplan, kleine Theatergruppen bildeten sich. Es gab Vorträge und Diskussionen über alle möglichen Themen, eine Ghetto-Zeitung wurde gedruckt, und das Ghetto-Geld wurde legales Zahlungsmittel. Heimlich wurden Gottesdienste abgehalten. Es waren vorwiegend die Bauleute, die diese vielseitige Aktivität in Gang setzten. Der kleine Dov hätte am liebsten von früh bis spät bei den Bauleuten gesessen, doch die Familie drang darauf, daß er zur Schule ging und möglichst viel lernte.

Im Frühjahr 1941 beschloß Adolf Hitler, das jüdische Problem endgültig zu lösen. In einer Geheimsitzung am Großen Wannsee verkündete Heydrich den führenden Männern des SD, der SS und anderen Nazi-Größen den Geheimbefehl des Führers. Die Endlösung hieß: Ausrottung! Mit dieser Aufgabe wurde der Siedlungsexperte SS-Obersturmbannführer Eichmann betraut.

Innerhalb weniger Monate wurden aus den »Einsatzkommandos« — den Liquidationskommandos des SD — »Sondereinsatzgruppen« formiert und nach Polen, in das Baltikum und das besetzte russische Gebiet in Marsch gesetzt, um dort den Führerbefehl zu vollziehen und die Massenliquidierung zu organisieren. Zunächst gingen die Einsatzgruppen nach einem feststehenden Schema vor. Sie trieben die Juden zusammen und brachten sie in irgendein abgelegenes, unbeobachtetes Gebiet. Dort wurden die Juden gezwungen, ihr eigenes Grab zu graben, sich auszuziehen und nackt an ihrem Grab hinzuknien. Sie bekamen den Genickschuß.

Einen besonderen Höhepunkt erreichte die Aktivität der Einsatzgruppen in Kiew, vor allem in einem Vorort namens Babi Yar, wo innerhalb von zwei Tagen am Rande riesiger Massengräber dreiunddreißigtausend Juden erschossen wurden.

Daß die Einsatzgruppen so »erfolgreich« arbeiten konnten, lag zum Teil auch daran, daß sie auf keinerlei Widerstand seitens der Bevölkerung stießen, die annähernd ebenso judenfeindlich war wie die Deutschen. Das Massaker von Babi Yar fand vor den Augen zahlreicher Ukrainer statt, die laut ihre Zustimmung bekundeten. Doch es zeigte sich bald, daß die Methoden der Einsatzgruppen für den großen Plan der Ausrottung sämtlicher Juden unzureichend waren. Das Erschießen war umständlich und ging zu langsam. Außerdem taten die Juden den Nazis nicht den Gefallen, in ausreichenden Mengen zu verhungern.

Daher arbeiteten die Nazis einen grandiosen Plan aus. Er erforderte die sorgfältigste Auswahl unauffälliger, abgelegener Plätze mit Eisenbahnanschluß und in der Nähe größerer Orte. Hochqualifizierte Fachleute wurden beauftragt, Vernichtungslager zu entwerfen, die an geeigneten Punkten errichtet werden sollten, um die Massenliquidierungen mit möglichst geringen Unkosten durchzuführen. Aus dem Personal der schon seit langem bestehenden Konzentrationslager innerhalb von Deutschland wählte man die besten Leute aus, die die neu zu errichtenden Lager übernehmen sollten.

Es wurde Winter. Im Warschauer Ghetto hielt der Tod eine Ernte, die sogar die Zahl der Toten überstieg, die in den Gruben von Babi Yar lagen. Hunderte und Tausende von Menschen verhungerten oder erfroren. Es starben Kinder, die zu schwach waren, um zu weinen, und alte Menschen, die keine Kraft mehr hatten, um zu beten. Jede Nacht starben Hunderte; die Straßen waren morgens mit Toten besät. Sanitätskommandos zogen durch die Straßen und schaufelten die Leichen auf Karren. Säuglinge, Kinder, Frauen, Männer wurden aufgeladen und zu den Krematorien gefahren, wo man die Leichen verbrannte.

Dov war inzwischen elf Jahre alt. Als Mundeks Bäckerei geschlossen wurde, ging Dov nicht mehr in die Schule, sondern lungerte auf der Suche nach Nahrung herum. Selbst Gruppen wie die Bauleute, die fest zusammenhielten, waren in schwerer Bedrängnis. Dov lernte es, sich mit List und Schläue im Ghetto am Leben zu erhalten. Er hielt Augen und Ohren offen und entwickelte die scharfe Witterung und den Instinkt, mit der sich ein Tier im Kampf ums Dasein behauptet. Es gab viele Tage, an denen der Kochtopf der Familie Landau leer war. Wenn es keinem der Familie oder der Bauleute gelungen war, eine Mahlzeit zusammenzubekommen, trennte sich Lea von einem ihrer letzten Schmuckstücke, um es gegen Nahrung einzutauschen.

Es war ein langer, harter Winter. Einmal, als sie fünf Tage lang nichts zu essen gehabt hatten, gab es bei den Landaus endlich wieder eine Mahlzeit; doch Leas Hand war ohne Ehering. Dann ging es ihnen wieder besser, denn die Bauleute hatten ein Pferd organisiert. Es war ein alter, magerer Klepper, und der Genuß von Pferdefleisch war den Juden verboten; doch es schmeckte wunderbar.

Ruth war jetzt neunzehn. Als sie in diesem Winter Jan heiratete, war sie so mager, daß man sie eigentlich nicht hübsch nennen konnte. Sie verlebten ihre Flitterwochen in dem einen Zimmer, das sie mit den vier anderen Landaus und den drei Mitgliedern von Jans Familie teilten. Offenbar aber hatte das junge Paar es doch fertiggebracht, irgendwann und irgendwo allein zu sein, denn im Frühling erwartete Ruth ein Kind.

Als Führer der Bauleute war es eine der wichtigsten Aufgaben Mundeks, den Kontakt mit der Welt außerhalb des Ghettos aufrechtzuerhalten. Das konnte man machen, indem man die polnischen und die litauischen Posten an den Toren bestach. Mundek war jedoch der Ansicht, das Geld müsse für wichtigere Dinge gespart werden. Daher erkundete man die Möglichkeiten, »unter der Mauer hindurch« aus dem Ghetto hinaus und ins Ghetto hereinzukommen: durch die Abwasserkanäle.

Es war höchst gefährlich, die Stadt zu betreten. Es gab ganze Banden polnischer Strolche, die beständig nach Juden Ausschau hielten, die sich aus dem Ghetto herausgeschlichen hatten, um sie zu erpressen oder der Polizei zu übergeben und die dafür ausgesetzte Belohnung einzustreichen. Die Bauleute hatten auf diese Weise schon fünf ihrer Mitglieder verloren. Der letzte, der von polnischen Gangstern dem SD ausgeliefert und gehängt worden war, war Jan gewesen, Ruths Mann.

Der kleine Dov war schlau und kannte die Schliche, die man kennen mußte, um sich am Leben zu erhalten. Er ging zu seinem Bruder Mundek und bat ihn, man möge doch ihn mit der Aufgabe betreuen, als Kurier durch den Kanal zu gehen. Mundek wollte zunächst nichts davon hören, doch Dov ließ nicht locker. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen sah er von ihnen allen am wenigsten wie ein Jude aus. Er war noch so jung, daß man bei ihm kaum Verdacht schöpfen würde. Mundek wußte, daß Dov das Zeug dazu hatte, doch er brachte es nicht übers Herz, seinen kleinen Bruder einer solchen Gefahr auszusetzen. Als Mundek dann aber innerhalb weniger Tage auch noch den sechsten und siebenten Kurier einbüßte, beschloß er, es mit Dov zu versuchen. Mundek sagte sich außerdem, daß sie alle miteinander ohnehin Tag für Tag in Lebensgefahr waren. Lea verstand ihn. Dov erwies sich als der beste Kurier des ganzen Ghettos. Er erkundete ein Dutzend verschiedener Wege, um »unter der Mauer« in die Stadt und von der Stadt ins Ghetto zu gelangen. Er wurde heimisch in den unterirdischen Gängen und in dem schlammigen, stinkenden, fauligen Wasser, das unterhalb von Warschau floß. Jede Woche machte Dov den Weg durch die schwarze Nacht des Kanals und den schlammigen Dreck, der ihm bis an die Schultern ging. War er erst einmal »unter der Mauer« aus dem Ghetto heraus, so begab er sich auf die Zabrowska 99, wo eine Frau wohnte, von der er nur wußte, daß sie Wanda hieß. Nachdem er sich bei ihr sattgegessen hatte, machte er sich auf den Rückweg und stieg wieder hinunter in den Kanal, beladen mit Pistolen, Munition, Geld, Radioteilen, mit Nachrichten aus anderen Ghettos und von den Partisanen.