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»Du gehst«, sagte Mundek. »Das ist ein Befehl.«

»Das ist kein Befehl«, sagte Dov.

»Doch — ich befehle es dir als Oberhaupt der Familie Landau!« Sie standen zu dritt in einer Ecke des Bunkers. Es war sehr still in dem unterirdischen Raum. »Es ist ein Befehl«, wiederholte Mundek. Rebekka nahm Dov am Arm und strich ihm über das blonde Haar. »Du bist ein großer Junge geworden, Dov«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Gelegenheit gehabt, dich zu verwöhnen, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie du hundertmal in den Kanal hinunter gestiegen bist, und ich habe erlebt, wie du uns etwas zu essen gebracht hast, was du irgendwo gestohlen hattest. Du hast eigentlich kaum eine richtige Kindheit gehabt.«

»Das ist doch nicht eure Schuld.«

»Hör zu, Dov«, sagte Mundek. »Du darfst Rebekka und mir diesen einen Wunsch nicht abschlagen. Wir haben dir nicht viel geben können. Du mußt uns den Versuch erlauben, dir wenigstens dein Leben zu geben.«

»Mir liegt aber gar nichts an meinem Leben, wenn ich nicht bei euch sein darf.«

»Bitte, Dov — bitte verstehe uns doch. Einer von der Familie Landau soll am Leben bleiben. Wir möchten, daß wenigstens du am Leben bleibst — für uns alle.«

Dov sah seinen Bruder an, den er liebte und verehrte.

»Ich verstehe«, sagte er mit leiser Stimme. »Ja — ich werde leben.« Er sah auf das Päckchen und schlug es in ein Stück Segeltuch ein, damit es im Kanal nicht naß werden sollte. Rebekka drückte seinen Kopf an ihre Brust.

»In Erez Israel werden wir uns wiedersehen«, sagte sie.

»Ja, im Lande Israel.«

»Du warst ein guter Soldat«, ergänzte Mundek. »Ich bin stolz auf dich. Schalom Lehitraoth.«

»Schalom Lehitraoth«, wiederholte Dov.

Seinen dreizehnten Geburtstag verbrachte Dov Landau in den Kanälen unterhalb der Stadt Warschau, durch die er zu Wandas Wohnung watete, mit so schwerem Herzen, daß es beinahe brechen wollte. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Welt hätte er heute seine Bar Mizwah gefeiert und damit das Mitspracherecht des Mannes in der jüdischen Gemeinschaft erhalten.

XXIII.

Am 18. Januar 1943, drei Tage nachdem Dov das Ghetto verlassen und sich zu Wanda begeben hatte, wo er zunächst einmal sicher war, kamen die Deutschen, die polnischen Blauen und die litauischen Büttel in Massen in das Ghetto geströmt. Jetzt, da nur noch fünfzigtausend Juden übrig waren, sollte die »Endlösung« beschleunigt und mit Gewalt vollzogen werden. Doch die Deutschen und ihre Polen und Litauer liefen in einen Geschoßhagel, der ihnen aus den Verteidigungsstellungen des ZOB entgegenschlug. Sie erlitten schwere Verluste und mußten fliehen.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Warschau! Die Juden machten einen Aufstand!

Am Abend dieses Tages lauschte in Warschau alles gespannt auf die Stimme des Geheimsenders des ZOB, der immer von neuem diesen Appell wiederholte: »Kameraden, Landsleute! Wir haben heute einen Schlag gegen die Tyrannei geführt. Wir fordern alle unsere polnischen Brüder außerhalb des Ghettos auf, sich zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu erheben! Vereinigt euch mit uns!«

Dieser Appell stieß auf taube Ohren. Doch am Hauptquartier des ZOB auf der Mila-Straße wurde die Flagge mit dem Davidstern gehißt, und daneben flatterte die polnische Fahne. Die Juden des Ghettos hatten beschlossen, unter dem Banner zu kämpfen und zu sterben, unter dem zu leben man ihnen verwehrt hatte.

Die Männer des ZOB übernahmen die Macht im Ghetto. Sie setzten den Judenrat ab, machten mit allen, die als Kollaborateure bekannt waren, kurzen Prozeß, und bezogen dann die vorbereiteten Verteidigungsstellungen.

Generalgouverneur Frank beschloß, lieber keinen Angriff auf das Ghetto zu machen, um dem ZOB nicht die Trümpfe zuzuspielen. Die Deutschen beschränkten sich darauf, die Sache zu bagatellisieren. Sie eröffneten einen Propagandakrieg, indem sie mit Lautsprecherwagen die Insassen des Ghettos aufforderten, herauszukommen und sich freiwillig zur Umsiedlung zu melden, wobei sie ihnen als Lohn für »ehrliche Arbeit« gute Behandlung zusicherten. Der ZOB erließ einen Tagesbefehl, durch den die noch im Ghetto befindlichen Juden darüber unterrichtet wurden, daß jeder, der die Aufforderung der Deutschen befolgte, von ihnen nicht evakuiert, sondern sofort erschossen werden würde.

Nach zwei Wochen, in denen es ruhig geblieben war, schickten die Deutschen erneut Patrouillen ins Ghetto, um Juden herauszuholen. Diesmal kamen sie schwerbewaffnet und bewegten sich mit äußerster Vorsicht. Die Männer vom ZOB ließen die Deutschen herankommen und eröffneten dann aus sorgfältig vorbereiteten Verteidigungsstellungen das Feuer. Wieder mußten die Deutschen aus dem Ghetto fliehen.

Während die Deutschen in der Presse und im Radio die jüdischen Bolschewisten beschimpften, die an allem schuld seien, bauten die Männer vom ZOB ihre Abwehrstellungen weiter aus, und ihr Geheimsender richtete an die polnische Widerstandsbewegung immer wieder die verzweifelte Bitte, den Juden im Ghetto zu Hilfe zu kommen. Doch es kamen keine Waffen, es kam keine Hilfe der Widerstandsbewegung, und nur ein paar Dutzend Freiwillige wagten den Weg durch den Kanal, um im Ghetto zu kämpfen.

Die Deutschen faßten den Plan, jeglichen Widerstand im Ghetto durch einen vernichtenden Schlag zu beseitigen. Sie wählten einen besonderen Tag für den Angriff: den Vortag des Pessach-Festes, das die Juden zur Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten begehen und das im Jahre 1943 auf den 20. April fiel. Die SS hatte den Vorabend des Pessach-Festes gewählt, weil sie hoffte, den vernichtenden Schlag innerhalb eines Tages führen und Hitler am 20. April als Geburtstagsgeschenk die Ausradierung des Warschauer Ghettos melden zu können.

Gegen drei Uhr morgens bildeten dreitausend SS-Leute, ausgesuchte Elitetruppen, verstärkt durch Polen und Litauer, einen dichten Ring um das gesamte Ghetto. Dutzende von Scheinwerfern suchten im Ghetto nach Zielen für die Granatwerfer und die leichte Artillerie der Deutschen. Das vorbereitende Artilleriefeuer dauerte an, bis es hell wurde. Dann begann die SS ihren Angriff über die Mauer. Von mehreren Seiten aus vorrückend, drangen die Deutschen tief in das Innere des Ghettos ein, ohne Widerstand zu finden. Plötzlich aber eröffneten die Kämpfer des ZOB, Männer und Frauen, von den Dächern der Häuser, aus den Fenstern und aus getarnten Feuerstellungen auf kurze Distanz das Feuer auf die überraschten und umzingelten Deutschen. Zum drittenmal mußten die Deutschen aus dem Ghetto fliehen.

Rasend vor Wut kamen sie zurück mit Tanks, doch die Tanks wurden empfangen mit einem Hagel von Flaschen, die mit Benzin gefüllt waren und die die eisernen Ungeheuer in brennende Särge verwandelten. Als die Tanks manövrierunfähig liegenblieben, mußte die SS erneut fliehen, diesmal unter Hinterlassung Hunderter von Toten, die die Straßen des Ghettos bedeckten.

Die Kämpfer des ZOB kamen aus ihren getarnten Stellungen herausgestürzt, um die Waffen und die Uniformen der Deutschen an sich zu nehmen.

Konrad, der für die Sicherheit im Ghetto verantwortliche Mann, wurde seines Postens enthoben, und SS-General Stroop bekam den Befehl, das Ghetto so gründlich zu vernichten, daß nie wieder irgend jemand es wagen würde, sich der Macht der Nazis zu widersetzen. Stroop unternahm einen Angriff nach dem andern. Jeder neue Angriff erfolgte nach einem anderen Plan und aus einer anderen Richtung. Doch jeder Angriff und jede Patrouille erlitten das gleiche Schicksal. Sie wurden vom ZOB abgeschlagen, dessen Angehörige wie die Rasenden kämpften und jedes Haus, jeden Raum und jeden Fußbreit erbittert verteidigten. Nicht einer dieser Kämpfer fiel lebend in die Hand des Feindes. Sooft die Deutschen in das Ghetto eindrangen, jedesmal wurden sie von den Juden durch selbstgebaute Landminen, durch Fallen, durch wütende Gegenangriffe und mit dem Mut der Verzweiflung wieder hinausgeworfen.