Zehn Tage waren vergangen, und noch immer hatten die Deutschen keinen Erfolg erzielt. Daraufhin unternahmen sie einen konzentrischen Angriff auf das Ghetto-Krankenhaus, wo sie keinen Widerstand vorfanden, erschossen alle Patienten, sprengten das Gebäude in die Luft und gaben dann lautstark bekannt, daß es ihnen gelungen sei, das Hauptquartier des ZOB zu zerstören.
Doch die Deutschen setzten ihre Angriffe fort, und bald machte sich ihre zahlenmäßige und materialmäßige Überlegenheit bemerkbar. Der ZOB konnte einen gefallenen Kämpfer nicht ersetzen; war eine Stellung zerstört, so blieb nichts weiter übrig, als die Front zurückzunehmen; es war nicht möglich, die Munition so rasch zu ersetzen, wie sie verschossen wurde. Und doch gelang es den Deutschen trotz aller Überlegenheit nicht, festen Fuß innerhalb des Ghettos zu fassen. Der ZOB richtete an viele Juden, die nicht den Kampfgruppen angehörten, die Aufforderung, durch den Kanal nach Warschau zu entweichen, da die Gewehre nicht mehr ausreichten, um alle zu bewaffnen.
Aus den drei Tagen, die Konrad für die Niederwerfung des GhettoAufstandes geringschätzig veranschlagt hatte, waren bereits zwei Wochen geworden. Am fünfzehnten Tag kämpfte Rebekka Landau in einem Gebäude im Besenbinderviertel, kaum ein paar Straßen vom Hauptquartier der Bauleute entfernt. Eine Granate, die in das Haus einschlug, tötete alle Kämpfer bis auf Rebekka, die durch die einstürzenden Wände gezwungen wurde, auf die Straße zu fliehen. Die Deutschen versuchten, ihr den Rückweg abzuschneiden. Als Rebekka erkannte, daß sie nicht entkommen konnte, griff sie in ihr Kleid, holte eine Handgranate hervor, lief auf drei deutsche Soldaten zu, zog die Granate ab und tötete sich und ihre drei Feinde.
Nach drei Wochen war Stroop gezwungen, seine Taktik zu andern. Seine Leute hatten schwere Verluste erlitten, und die Nazis waren nicht mehr in der Lage, den heldenhaften Kampf der Juden durch Propaganda zu vertuschen. Stroop zog seine Leute zurück, verstärkte den Ring um das Ghetto und erklärte den Belagerungszustand. Er holte schwere Artillerie heran, die aus nächster Nähe das Feuer eröffnete, um alle Gebäude, deren sich die Juden so erfolgreich als Abwehrstellungen bedient hatten, dem Erdboden gleichzumachen. Nachts kamen Heinkel-Bomber, die das Ghetto mit einem Regen von Brandbomben belegten.
Mundek, der zu einer Besprechung der Gruppenführer im ZOB-Hauptquartier gewesen war, kam in den Bunker der Bauleute zurück. Er selbst und seine Leute waren halbtot vor Erschöpfung, Hunger und Durst. Viele hatten schlimme Brandwunden. Sie sammelten sich um ihn.
»Die deutsche Artillerie hat so gut wie alle Häuser zusammengeschossen«, sagte er. »Was noch steht, brennt.«
»Ist es gelungen, Verbindung mit dem polnischen Widerstand aufzunehmen?«
»Doch, wir haben Verbindung mit ihnen aufgenommen, aber sie werden uns nicht helfen. Wir können keinerlei Nahrung, Munition oder irgendwelchen sonstigen Nachschub von ihnen erwarten. Wir müssen mit dem auskommen, was wir haben. Unser Meldewesen ist so gut wie ruiniert. Das, Freunde, aber bedeutet, daß wir nicht mehr nach einem gemeinsamen Plan vorgehen können. Jeder Bunker ist auf sich selbst gestellt. Wir werden versuchen, die Verbindung zum ZOB durch Melder aufrechtzuerhalten. Doch wenn die Deutschen das nächstemal kommen, wird jede Gruppe auf eigene Faust handeln müssen.«
»Wie lange können wir uns auf diese Weise noch halten, Mundek? Wir haben nur noch dreißig Leute, zehn Pistolen und sechs Gewehre.«
Mundek lächelte. »Ganz Polen hat sich nur sechsundzwanzig Tage halten können. Das haben wir bereits geschafft.« Mundek teilte die Wachen ein, gab den kleinen Rest Verpflegung aus, der noch vorhanden war, und legte den Weg des Spähtrupps fest.
Rywka, eines der Mädchen, nahm ein arg mitgenommenes Akkordeon und begann eine langsame, wehmütige Weise zu spielen. Und in dem feuchten, stickigen Bunker, drei Meter unter der Erde, vereinigten die Bauleute, die noch am Leben waren, ihre Stimmen zu einem sehnsüchtigen Gesang. Sie sangen ein Lied, das sie als Kinder gelernt und auf den Versammlungen der Bauleute gesungen hatten. Der Text des Liedes erzählte davon, wie schön es in Galiläa war, im Lande Israel, und daß dort auf den Feldern der Weizen wuchs, dessen Ähren sanft im Winde schwankten. In einem Bunker unter der Erde des Warschauer Ghettos sangen sie von den Feldern in Galiläa, die sie, wie sie wußten, niemals sehen würden.
»Achtung!« rief der Posten nach unten, als er eine einsame Gestalt erspähte, die durch die Flammen und Trümmer langsam herankam. Das Licht ging aus, und im Bunker wurde es dunkel und still. Dann klopfte jemand an die Tür. Es war das verabredete Zeichen. Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, und im Bunker wurde es wieder hell.
»Dov! Um Himmels willen! Was willst du denn hier?«
»Schick mich nicht wieder fort, Mundek!«
Die beiden Brüder umarmten sich, und Dov weinte. Er war glücklich, daß er wieder bei Mundek war. Alle drängten sich um Dov, der die schlimme Botschaft brachte: Es sei endgültig entschieden, daß die polnische Widerstandsbewegung den Juden nicht zu Hilfe kommen würde und daß draußen alle Leute den Aufstand des Ghettos zu verschweigen trachteten.
»Als ich jetzt zurückkam«, sagte Dov, »war der Kanal voll von Menschen, die einfach im Schlamm liegen. Sie sind so schwach, daß sie nicht mehr weiterkönnen. Sie wissen auch nicht, wohin. Niemand in Warschau ist bereit, sie aufzunehmen.«
So kam also der kleine Dov in das Ghetto zurück — und nicht nur er. Es geschah etwas sehr Merkwürdiges. Aus ganz Warschau und den umliegenden Dörfern kamen jetzt Juden, denen es gelungen war, unterzutauchen und als Christen zu leben, wieder ins Ghetto zurück, um an der letzten Phase des Kampfes teilzunehmen. Sie hielten es für ein Privileg, ehrenvoll zu sterben.
Das Bombardement hörte endlich auf. Die Häuser brannten nieder, das Feuer erlosch.
Von neuem schickte Stroop seine SS in das Ghetto, und diesmal hatte sie gewonnenes Spiel. Die Juden hatten keinerlei AbwehrStellungen mehr, keine Verbindung untereinander, kaum noch Waffen und fast nichts mehr zu essen und zu trinken. Die Deutschen gingen systematisch vor, riegelten jeweils einen Abschnitt des Ghettos ab und knackten mit Artillerie und Flammenwerfern einen Bunker nach dem andern, bis in dem ganzen Abschnitt nichts mehr lebte.
Sie bemühten sich, Gefangene zu machen, um aus ihnen die genaue Lage der anderen Bunker herauszufoltern, doch die Kämpfer des ZOB verbrannten lieber bei lebendigem Leibe, als sich zu ergeben. Die Deutschen öffneten die Schleusendeckel und pumpten Giftgas in die Kanäle. Bald war das schlammige Wasser voller Leichen. Doch der ZOB kämpfte noch immer. Wenn die Besatzung eines Bunkers eine deutsche Patrouille entdeckte, kam sie hervor und schlug rasch und tödlich zu. Selbstmörderkommandos stürzten sich in den sicheren Tod. Die Verluste der Deutschen stiegen in die Tausende.
Am 14. Mai 1943 versammelte Mundek die zwölf Überlebenden seiner Gruppe. Er sagte ihnen, sie hätten die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: entweder dazubleiben und zu kämpfen bis zum letzten Mann, oder aber die Flucht durch den Kanal zu versuchen. Vielleicht gelang es Dov, sie aus dem Ghetto heraus und in Sicherheit zu bringen. Dann bestand die freilich sehr geringe Chance, eine Gruppe der Widerstandskämpfer zu erreichen und sich ihr anzuschließen. Dov versicherte Mundek, es sei möglich, das vergaste Gebiet des Kanalsystems zu umgehen.
Er machte sich zunächst allein auf den Weg, und es gelang ihm wirklich in die Stadt zu kommen. Doch als er sich dem Haus Zabrowska 99 näherte, sagte ihm sein Instinkt, daß dort irgend etwas nicht stimmte. Ohne stehenzubleiben ging er an dem Haus vorbei. Seine scharfen Augen entdeckten ein Dutzend Leute, die von verschiedenen Beobachtungsposten aus das Haus Zabrowska 99 überwachten. Dov wußte nicht, ob Wanda von der Gestapo gefaßt worden war oder nicht, aber er wußte jedenfalls, daß das Haus nicht mehr sicher war.