Spät am Abend kam er ins Ghetto zurück. Es war selbst für ihn nicht leicht, den Bunker zu finden, denn es gab keine Straßen, keine Häuser mehr, nur noch Trümmer. Als er näher kam, roch er den vertrauten Geruch verbrannten Fleisches. Er stieg hinunter und zündete die Kerze einer kleinen Lampe an, die er immer bei seinen Gängen durch den Kanal benutzte. Bei ihrem flackernden Licht ging Dov von einem Ende des Bunkers zum anderen, kniete sich bei jedem, der am Boden lag, hin und leuchtete ihm mit seiner Kerze ins Gesicht. Die noch rauchenden Toten waren durch Flammenwerferstöße aus nächster Nähe bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt. Dov Landau wußte nicht, welche der verkohlten Leichen die seines geliebten Bruders Mundek war.
Am 15. Mai 1943 brachte der Sender des ZOB seinen letzten Aufruf: »Hier spricht das Warschauer Ghetto! Wir bitten euch, helft uns!«
Am nächsten Tag, nachdem bereits sechs volle Wochen seit dem ersten deutschen Angriff vergangen waren, ließ SS-General Stroop die große Synagoge in der Tlamatzka sprengen, die seit vielen Jahrzehnten ein Symbol des Judentums in Polen gewesen war. Am gleichen Tag verkündeten die Deutschen, das Problem des Warschauer Ghettos sei nunmehr endgültig gelöst. Stroop meldete seiner vorgesetzten Dienststelle die Eroberung von sechzehn Pistolen und vier Gewehren. Außerdem teilte er mit, daß die Trümmer der Gebäude brauchbares Baumaterial ergäben. Gefangene seien nicht gemacht worden.
Selbst nach dieser mit so außerordentlicher Gründlichkeit vollzogenen Vernichtung gab es noch einzelne Kämpfer des ZOB, die sich weigerten, zu sterben. Auch in den Trümmern ging der Kampf weiter. Die Juden, die auf irgendwelche Weise mit dem Leben davongekommen waren, fanden einander, bildeten zu zweien und dreien kleine »Rudel« und überfielen bei Nacht deutsche Patrouillen. Die SS-Leute und die polnischen Blauen glaubten steif und fest, im Ghetto gingen Gespenster um.
Dov fand sechs andere Juden. Sie gingen von Bunker zu Bunker, bis alle bewaffnet waren. Sie zogen hierhin und dorthin, doch der Anblick und der Gestank des Todes war überall. Bei Nacht führte Dov sie durch den Kanal in die Stadt, wo sie rasche Überfälle auf Lebensmittelgeschäfte unternahmen.
Den ganzen Tag über blieben Dov und die sechs anderen unter der Erde, in einem frisch ausgehobenen Bunker. Fünf schreckliche Monate lang erblickten weder Dov Landau noch einer seiner Kameraden jemals das Licht des Tages. Sie starben einer nach dem anderen — drei bei einem Überfall in Warschau, zwei begingen Selbstmord, und einer verhungerte.
Schließlich war nur noch Dov allein am Leben. Gegen Ende des fünften Monates wurde er von einer deutschen Patrouille gefunden. Er war dem Tode nahe und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Man schleppte ihn zur Gestapo, um ihn zu vernehmen.
Jede Vernehmung endete damit, daß Dov Landau geschlagen wurde. Man glaubte ihm einfach nicht, daß er ohne jede Hilfe von außen so lange in den Trümmern des Warschauer Ghettos am Leben geblieben sei.
XXIV.
Dov Landau, dreizehn Jahre alt, Ghettoratte, Kanalratte, Trümmerratte und Spezialist für Fälschungen, wurde einem Aussiedlungstransport zugeteilt. Zusammen mit sechzig anderen Juden wurde er in einen offenen Güterwagen verfrachtet. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte durch die einsame Landschaft und die eisige Kälte nach Süden — Richtung Auschwitz!
BERLIN 1940
SS-Brigadeführer Höß erschien im Dienstzimmer des SS-Obersturmbannführers Eichmann, dem man die Aufgabe übertragen hatte, die »Endlösung« des jüdischen Problems zu vollziehen. Eichmann zeigte Höß den Plan, die Gemeinschaftsarbeit aller NaziGrößen. Höß war von dem ausgeklügelten Plan des Massenmordes sehr beeindruckt.
Der ganze europäische Kontinent war mit Konzentrationslagern und Gefängnissen für politische Häftlinge wie mit einem feinmaschigen Geflecht überzogen. In jedem besetzten Land befanden sich Gestapo-Dienststellen. Ein weiteres Netz von dreihundert Nebenlagern umspannte Europa. Die Hälfte davon war für Juden reserviert.
Trotz aller Konzentrationslager und ihrer sorgfältig ausgewählten Lage wußten die Nazis, daß außerordentliche Schwierigkeiten entstehen würden, falls sie versuchten, in Westeuropa Vernichtungslager einzurichten. Man hatte Höß nach Berlin gerufen, weil Polen sowohl in bezug auf die Balkanländer als auch in bezug auf Westeuropa verkehrstechnisch am günstigsten gelegen war. Ein solches Lager, das als Modell dienen konnte, brauchte ein ausgedehntes Gelände. Schließlich gab es außer den Juden, deren man sich entledigen wollte, auch noch Russen, Franzosen, verschiedene Kategorien von Kriegsgefangenen, Partisanen, politische Gegner in den besetzten Ländern, strenggläubige Katholiken, Zigeuner, Freimaurer, Marxisten, Bolschewiken, gemeine Verbrecher, und nicht zuletzt Deutsche, die sich für den Frieden einsetzten, für Liberalismus, Gewerkschaften, oder solche, die ganz schlicht Defätisten waren. Es gab Personen, die verdächtig waren, feindliche Agenten zu sein, Prostituierte, Homosexuelle und manche anderen »unerwünschten Elemente«. Sie alle sollten ausgerottet werden, um Europa für die »arische Rasse« zu säubern. Ein solches Lager, wie es Eichmann vor Augen hatte, würde alle diese Leute aufnehmen können. Eichmann teilte Höß mit, daß man ihm in Anerkennung seiner langjährigen treuen Dienste die Leitung dieses neu zu errichtenden Lagers übergeben wolle. Er ging an die Karte und zeigte mit dem Finger auf eine kleine polnische Stadt in der Nähe der tschechischen Grenze. Eine Stadt namens Auschwitz. Der Zug, der mit Dov Landau nach Auschwitz unterwegs war, hielt bei dem Eisenbahnknotenpunkt Krakau auf einem Rangiergleis. Eine ganze Reihe weiterer Wagen wurde angehängt. Viehwagen mit Juden aus Frankreich und Griechenland, Kohlenwagen mit Juden aus Jugoslawien und Holland, geschlossene Güterwagen mit Juden aus der Tschechoslowakei, und offene Güterwagen mit Juden aus Italien, alle zur Aussiedlung bestimmt. Es war bitter kalt. Dov, der auf einem offenen Güterwagen stand, besaß keinerlei Schutz gegen den eisigen Wind und den treibenden Schnee als sein zerfetztes Hemd und das bißchen Körperwärme der eng zusammengepferchten Menschen.
Als die Nazis Höß dazu auswählten, Kommandant des Lagers Auschwitz zu werden, der größten Todesfabrik und Vernichtungszentrale, schätzten sie den Mann, dem sie diese Aufgabe übertrugen, richtig ein. Höß konnte auf eine lange Erfahrung im System der Konzentrationslager zurückblicken, bis zum Jahre 1934, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Zuletzt war er stellvertretender Kommandant des Lagers Sachsenhausen gewesen. Höß war ein Pedant, systematisch; Befehle führte er aus, ohne sie jemals als bedenklich zu empfinden, und auch die härteste Arbeit hatte ihn nie gestört.
Im Gebiet von Auschwitz wurden auf einem Gelände von zwanzigtausend Morgen alle Gehöfte abgerissen und das Ganze mit einem hohen Stacheldrahtzaun abgegrenzt. Ein Stab ausgesuchter Konstrukteure, Techniker, Transportfachleute und Elitetruppen der SS machten sich ans Werk, um das riesige Projekt zu verwirklichen. Drei Kilometer vom Hauptlager Auschwitz entfernt, wurde ein gesondertes Lager errichtet, Birkenau, das zur Aufnahme der Gaskammern bestimmt war. Birkenau war ein abgelegener Ort mit eigenem Gleisanschluß. Man hatte diese Stelle gewählt, weil sie vom westlichen, östlichen und südlichen Europa aus mit der Eisenbahn gut zu erreichen war. Auschwitz war eine kleine Stadt ohne jede Bedeutung. Bei der Errichtung dieser Konzentrationslager hatten die Nazis allerdings wesentliche Einwände ihrer eigenen Wehrmacht zu überwinden.
Die deutsche Wehrmacht brauchte alle Eisenbahnen und alles rollende Material für den Krieg an der Ostfront. Das Oberkommando sah es als Unsinn an, wertvollen Frachtraum dafür zu mißbrauchen, um Juden durch ganz Europa zu transportieren. Doch die Nazis blieben hartnäckig bei ihrer Meinung, daß die Endlösung der Judenfrage ebenso wichtig war wie die Kriegführung. Die Gegensätze prallten so hart aufeinander, daß Hitler persönlich entscheiden mußte. Und Hitler entschied zugunsten von SS, SD, Gestapo und der übrigen Nazi-Größen gegen seine Generalität.