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Dov wurde übel vor Angst. Er glaubte, sich erbrechen zu müssen. Doch er unterdrückte es und bemühte sich krampfhaft, Haltung zu bewahren.

Die Viererreihe, in der sich Dov befand, war am Ende des Bahnsteigs angelangt und betrat den Raum. Sie teilte sich in vier Einzelreihen, und jede Reihe bewegte sich auf einen Tisch zu, der am Ende des Raumes stand. An jedem dieser Tische saß ein SS-Arzt, und hinter jedem dieser Ärzte stand ein Dutzend SS-Leute. Dov konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Tisch vor sich und versuchte, dahinterzukommen, was hier vorging. Der Arzt musterte jeden, der bei seinem Tisch ankam, mit einem flüchtigen Blick und schickte ihn dann in eine von drei Richtungen.

Der erste dieser drei Wege führte durch eine Tür rechts. Dov begann zu zählen: auf je zehn Menschen kamen sieben, die durch diese Tür rechts geschickt wurden. Das waren alte Leute, Kinder oder Kranke. Da Dov vermutete, daß die Gebäude auf der rechten Seite die Gaskammern enthielten, folgerte er, daß diejenigen, die durch die rechte Tür geschickt wurden, sofort vergast werden sollten.

Der zweite Weg führte durch eine Tür links. Durch diese Tür ging es nach draußen auf die Straße, wo die Wagenkolonnen warteten. Auf jeweils zehn kamen etwa zwei, die dort hinausgeschickt wurden, und das waren alles Leute, die noch einigermaßen bei Kräften zu sein schienen. Dov schloß daraus, daß diese Leute in ein Arbeitslager kamen.

Die Tür rechts bedeutete also Tod, die Tür links das Leben! Es gab auch noch eine dritte Gruppe. Diese Leute, auf jeweils zehn oder auch zwanzig kam höchstens einer, waren meistens schöne junge Frauen und Mädchen. Auch einige hübsche Jungens, so um die fünfzehn, wurden dieser Gruppe zugeteilt.

Dov holte ein paarmal tief Luft, während die Reihe, in der er stand, sich langsam vorwärtsbewegte. Er war nur noch Haut und Knochen, und es war ihm klar, daß er kaum Aussicht hatte, durch den Ausgang links in ein Arbeitslager geschickt zu werden.

Der Arzt besah sich ein Opfer nach dem anderen und wiederholte monoton: »Rechts — rechts — rechts — rechts.«

Dov Landau kam an den Tisch und blieb davor stehen. Der Arzt sah Dov flüchtig an und sagte: »Rechts!«

Dov lächelte und sagte seelenruhig: »Ich glaube, Herr Doktor, Sie irren sich. Ich bin nämlich Spezialarbeiter — Fachmann für Fälschungen. Schreiben Sie Ihren Namen da auf das Stück Papier, dann werde ich es Ihnen beweisen.«

Der Arzt lehnte sich verblüfft in seinem Stuhl zurück. Dovs Kaltblütigkeit imponierte ihm. Der Knabe wußte offensichtlich genau, was ihm bevorstand. Der monotone Todesmarsch stockte plötzlich. Dann faßte sich der Arzt und lächelte höhnisch. Zwei SS-Männer ergriffen Dov und schleppten ihn fort.

»Halt!« rief der Arzt. Er sah Dov noch einmal an und befahl ihm, wieder an den Tisch zu kommen. Sicher versuchte der Junge nur zu bluffen. Der Arzt war schon entschlossen, Dov durch die Tür nach rechts zu schicken, doch dann gewann seine Neugier die Oberhand. Er nahm einen Block und kritzelte seinen Namen darauf.

Dov schrieb sechs Wiederholungen des Namenszuges auf den Block und gab ihn zurück. »Können Sie mir sagen, welche davon Ihre Unterschrift ist?« fragte er.

Ein halbes Dutzend SS-Leute sah dem Arzt über die Schulter und machte erstaunte Augen. Der Arzt warf nochmals einen Blick auf Dov und sagte dann leise etwas zu einem der SS-Leute, der sich daraufhin entfernte.

»Bleib da an der Seite stehen«, sagte der Arzt.

Dov blieb neben dem Tisch stehen und sah die Reihe der Menschen herankommen, von denen pro Minute vier zum Tode verurteilt wurden.

Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten vergingen. Die Schlange, die sich vom Bahnsteig hereinwand, schien ohne Ende.

Der SS-Mann kam mit einem anderen zurück, der ein hohes Tier zu sein schien, denn seine Brust war bedeckt mit Orden und Ehrenzeichen. Der Arzt übergab dem Offizier den Block mit den Unterschriften, die dieser sich fast eine Minute lang aufmerksam ansah.

»Wo hast du das gelernt?« fragte er.

»Im Warschauer Ghetto.«

»Was kannst du?«

»Ich kann Pässe fälschen, Ausweise, Formulare, Banknoten — alle Arten von Dokumenten.«

»Komm mit.«

Dov ging durch die linke Tür hinaus. Als er in dem Lastwagen saß, der zum Lager Auschwitz fuhr, erinnerte er sich daran, was sein Bruder Mundek gesagt hatte. »Wenigstens einer von der Familie Landau muß mit dem Leben davonkommen.« Kurz darauf fuhr der Lastwagen durch den Haupteingang des Lagers Auschwitz. Über dem Eingang hing ein Schild: ARBEIT MACHT FREI.

Meilenweit erstreckten sich die hölzernen Baracken des Hauptlagers durch das schlammige Gelände, Block neben Block, voneinander getrennt durch hohe Wände aus elektrisch geladenem Stacheldraht. In diesen Baracken hausten die Arbeitskräfte, mit denen an die dreißig zusätzliche Zwangsarbeitslager versorgt wurden. Alle Lagerinsassen trugen einen blau-weiß gestreiften Sträflingsanzug und auf der linken Brustseite und am rechten Hosenbein ein farbiges Dreieck: bei den Homosexuellen war das Dreieck rosa, bei den »Asozialen« war es schwarz, bei den Kriminellen grün, bei den Bibelforschern violett, bei allen »Politischen« rot, und bei den Juden war es der traditionelle Davidstern. Außerdem bekam Dov, genau wie alle anderen in Auschwitz, noch ein weiteres Erkennungszeichen: eine Nummer, die auf seinen linken Unterarm tätowiert wurde. Dov Landau war jetzt ein blau-weiß gestreifter Jude mit der Nummer 359195.

ARBEIT MACHT FREI.

Dov Landau beging in Auschwitz seinen vierzehnten Geburtstag, und sein Geburtstagsgeschenk war die Tatsache, daß er noch lebte. Verglichen mit den vielen Tausenden der anderen Häftlinge war sein Los nicht einmal das schlechteste, denn er und die paar anderen Fälscher gehörten sozusagen zur Elite. Seine Arbeit bestand darin, Ein- und Fünf-Dollar-Noten zu fälschen, die für Agenten der deutschen Spionage im Westen gebraucht wurden. Und doch fragte sich Dov nach einiger Zeit, ob es nicht besser gewesen wäre, in Birkenau zu sterben.

Hier in Auschwitz war die Ernährung völlig unzureichend. Die zu Skeletten abgemagerten Häftlinge wurden unbarmherzig an die Arbeit getrieben. Fünf Stunden Schlaf, die man ihnen zugestand, mußten sie eng zusammengepfercht auf Brettern verbringen. Epidemien brachen aus. Die Lagerinsassen wurden gequält, geschlagen, gefoltert, in den Wahnsinn getrieben, erniedrigt. Sie waren allen überhaupt nur denkbaren Grausamkeiten ausgesetzt. Jeden Morgen fand man Dutzende, die sich erhängt oder ihrer Qual ein Ende gemacht hatten, indem sie in den elektrisch geladenen Stacheldraht gerannt waren. Die Strafkompanie lebte in dunklen Einzelzellen und wurde mit versalzenem Gemüse überfüttert, das einen unstillbaren Durst hervorrief.

Hier in Block X benutzte Dr. Wirth Frauen als Versuchskaninchen und Dr. Schumann sterilisierte sie durch Kastration und Röntgenstrahlen. Clauberg entfernte Eierstöcke und Dr. Dehring machte 17 000 chirurgische Experimente ohne Betäubung.

Das war Auschwitz, und so sah das Leben aus, das man Dov Landau geschenkt hatte. ARBEIT MACHT FREI.

»Einer von der Familie Landau muß überleben«, hatte Mundek gesagt. Wie hatte Mundek überhaupt ausgesehen? Er konnte sich kaum noch erinnern. Oder Ruth oder Rebekka, oder seine Mutter, sein Vater? An seinen Vater hatte er gar keine Erinnerung mehr. Sein Gedächtnis wurde von Tag zu Tag schwächer, ganz nebelhaft wußte er nur noch um seine Vergangenheit. Für ihn gab es jetzt nur Todesfurcht und Schrecken, und ein Leben ohne diese ständige Angst vor Tod und Mißhandlung lag bereits außerhalb seines Vorstellungsvermögens.

So verging ein Jahr. In Birkenau kamen und gingen die Züge. Die Zahl derer, die in den Arbeitslagern rund um Auschwitz ums Leben kam, zu Tode gequält wurde, verhungerte oder einer Seuche erlag, war fast genauso erschreckend hoch wie die Rekordzahlen von Birkenau. Doch irgendwie gelang es Dov, seinen Verstand nicht zu verlieren und sich mit der instinktiven Wachheit eines wilden Tieres am Leben zu erhalten.