Als nächsten Schritt setzte sich Bradshaw mit Tevor-Browne auf Zypern in Verbindung. Er bat den General, der Exodus mitzuteilen, daß die Engländer damit beschäftigt seien, einen Kompromißvorschlag auszuarbeiten, und daß man den Beginn der Aktion um vierundzwanzig Stunden verschieben möge. Tevor-Browne führte den Auftrag aus und übermittelte Bradshaw Ben Kanaans Antwort.
DRINGEND
Ben Kanaan hat uns wissen lassen, daß es für ihn nichts zu diskutieren gibt. Die einzige Frage für ihn ist, ob die Exodus ausläuft oder nicht. Er stellt außerdem fest, daß zu seinen Bedingungen eine völlige Amnestie für alle an Bord befindlichen Männer aus Palästina gehört. Zusammenfassend erklärte Ben Kanaan: Laßt mein Volk in Frieden ziehen. Tevor-Browne.
Cecil Bradshaw fand keinen Schlaf. Er ging auf und ab, auf und ab. Nur noch sechs Stunden, dann wollten die Kinder auf der Exodus anfangen.
Drei Stunden blieben ihm noch, sich zu entscheiden und dem Kabinett seinen Entschluß vorzulegen. Ein Kompromiß schien nicht möglich.
Kämpfte er gegen einen Wahnsinnigen? Oder war dieser Ari ben Kanaan ein gerissener Bursche, der nach einem kaltblütigen Plan handelte und ihn listig tiefer und tiefer in eine Falle gelockt hatte? LASST MEIN VOLK IN FRIEDEN ZIEHEN!
Cecil Bradshaw setzte sich an seinen Schreibtisch und knipste die Lampe an.
DRINGEND
Ari ben Kanaan, der Sprecher der Exodus, hat bekanntgegeben, daß ab morgen mittag 12 Uhr täglich zehn Freiwillige auf der Brücke des Schiffes Selbstmord begehen werden — Selbstmord — Selbstmord — Selbstmord!
Bradshaws Hand zitterte so heftig, daß er das Blatt fallen ließ. Auf seinem Schreibtisch lag ein Dutzend offizieller Stellungnahmen verschiedener europäischer und amerikanischer Regierungen. Sie alle gaben, in der höflichen Sprache der Diplomatie, ihrer ernsten Sorge über den Stillstand in der Frage der Exodus Ausdruck. Desgleichen lagen auf seinem Schreibtisch Noten sämtlicher arabischer Regierungen, in denen mitgeteilt wurde, daß man es als Affront empfände, wenn die Exodus die Erlaubnis erhalten sollte, nach Palästina auszulaufen.
Cecil Bradshaw wußte weder ein noch aus. Die letzten Tage waren für ihn eine Hölle gewesen. Wie war es eigentlich dazu gekommen? Dreißig Jahre lang war er federführend und maßgeblich in allen Fragen der Nahost-Politik tätig gewesen, und jetzt saß er wegen eines unbewaffneten Bergungsschiffes in einer so üblen Klemme. Was für einen sonderbaren Streich hatte ihm das Schicksal doch gespielt, daß es ihn jetzt als Unterdrücker erscheinen ließ. Ihn konnte gewiß niemand beschuldigen, Antisemit zu sein. Im geheimen bewunderte Bradshaw die Juden in Palästina sogar und verstand durchaus die historische Bedeutung ihrer Rückkehr dorthin. Er hatte die Stunden, die er damit verbracht hatte, mit den zionistischen Unterhändlern zu debattieren, in bester Erinnerung und schätzte sie wegen ihrer hervorragenden Fähigkeiten in der Diskussion. Freilich war Cecil Bradshaw davon überzeugt, daß Englands Interesse bei den Arabern lag. Schon war die Zahl der Juden im Mandatsgebiet auf über eine halbe Million angewachsen. Und die Araber waren ungehalten darüber, daß die Engländer eine jüdische Nation in ihrer Mitte förderten.
Während all der Jahre seiner Tätigkeit war er Realist geblieben. Was war jetzt eigentlich los mit ihm, daß er plötzlich seine eigenen Enkelkinder bewußtlos auf dem Oberdeck der Exodus liegen wähnte?
Bradshaw kannte die Bibel so gut wie jeder andere anständige Engländer und hatte auch das ausgeprägte Ehrgefühl, das den meisten Briten eigen ist. War es denkbar, daß diese Leute auf der Exodus von mystischen Kräften getrieben waren? Nein, er war Diplomat und Realist, und er glaubte nicht an irgend etwas Übernatürliches.
Und doch — ein Heer und eine Flotte standen ihm zur Verfügung; er konnte, wenn er wollte, die Exodus und alle anderen Blockadebrecher in die Luft sprengen — aber er konnte sich einfach nicht dazu entschließen.
Auch der Pharao von Ägypten hatte die Macht auf seiner Seite gehabt! Bradshaw brach der Schweiß aus. Das waren doch alles Hirngespinste! Er war übermüdet, seine Nerven waren überansprucht. Was für ein Unfug!
LASST MEIN VOLK IN FRIEDEN ZIEHEN!
»Crawford!« rief Bradshaw laut. »Crawford!«
Crawford kam eilig hereingestürzt. »Hatten Sie nach mir gerufen?« »Crawford — setzen Sie sich mit Tevor-Browne auf Zypern in Verbindung — sofort. Sagen Sie ihm — sagen Sie ihm, er soll die Exodus nach Palästina auslaufen lassen.«
ZWEITES BUCH
DAS LAND IST MEIN
Denn Mein ist das Land, und ihr seid Fremdlinge und Gäste vor Mir. Und alle in eurem Lande sollt das Land auslösen.
MOSES, 3. BUCH, 25, I.
I.
Der Kampf um die Exodus war beendet!
Innerhalb von Sekunden gingen die Worte »Exodus darf auslaufen« durch den Äther, und bald erschienen sie überall auf der Welt als Schlagzeile.
Auf Zypern war die Freude der Bevölkerung grenzenlos, und um die ganze Welt ging ein tiefes Aufatmen. Die Kinder an Bord der Exodus waren zu erschöpft, um den Sieg zu feiern.
Die Engländer ersuchten Ari ben Kanaan dringend, an den Kai zu kommen, damit man den Kindern ärztliche Pflege angedeihen lassen und das Schiff inspizieren und überholen könnte. Ben Kanaan war einverstanden. Als die Exodus anlegte, begann in Kyrenia eine fieberhafte Tätigkeit. An die zwanzig englische Militärärzte kamen an Bord und ließen die schwereren Fälle rasch an Land schaffen. Im Dom-Hotel wurde in aller Eile ein improvisiertes Lazarett eingerichtet. Wagenkolonnen brachten Verpflegung und Bekleidung heran. Die Bevölkerung von Zypern schickte Geschenke. Ingenieure der englischen Flotte inspizierten den alten Dampfer von vorn bis achtern, um jedes Leck zu dichten, den Motor zu überholen und das ganze Schiff auszubessern. Sanitätertrupps desinfizierten das Schiff bis in den letzten Winkel.
Nach einer ersten Überprüfung teilte man Ari mit, daß es mehrere Tage dauern werde, ehe die Kinder soweit gekräftigt seien und die Exodus instand gesetzt sei. Schiff und Passagiere konnten erst dann die rund sechsunddreißigstündige Reise nach Palästina überstehen. Die kleine jüdische Gemeinde von Zypern schickte eine Abordnung zu Ari mit der Bitte, er möge den Kindern erlauben, vor der Abfahrt den ersten Abend des kurz bevorstehenden Chanukka-Festes auf Zypern zu feiern. Ari war auch damit einverstanden.
Erst nachdem man Kitty immer wieder versichert hatte, daß Karens Zustand nicht bedrohlich sei, gestattete sie sich den Luxus eines heißen Bades. Sie aß ein dickes Steak, trank einen doppelten Whisky und schlief danach herrlich und tief, siebzehn Stunden lang.
Als sie erwachte, sah sie sich einem Problem gegenüber, dem sie nicht länger ausweichen konnte. Sie mußte sich entscheiden, entweder die Episode mit Karen für immer zu beenden oder dem Mädchen nach Palästina zu folgen.
Als Mark gegen Abend zum Tee in Kittys Zimmer kam, war ihr von den hinter ihr liegenden Strapazen nichts mehr anzusehen. Nach dem langen Schlaf sah sie im Gegenteil ausgesprochen gut aus.
»Im Presseraum noch immer hektischer Betrieb?«
»Nein«, sagte Mark, »nicht mehr. Die Hauptleute und die Könige sind im Aufbruch. Die Exodus ist eine Neuigkeit von vorgestern. Na, ich nehme an, daß wir noch einen letzten Bericht auf der ersten Seite herausschlagen können, wenn das Schiff in Haifa landet.«
»Die Menschen sind treulos.«
»Nein, Kitty, das sind sie nicht. Aber die Welt hat nun einmal die Angewohnheit, sich weiterzudrehen.«