Jakob, der Jüngere, war vierzehn Jahre alt. Er war ein Hitzkopf, mit scharfer Zunge und von raschem Geist. Er war jederzeit sofort bereit, ein Streitgespräch zu beginnen.
Yossi, der ältere der beiden Brüder, war sechzehn. Seine Erscheinung war auffallend. Er war ein athletischer Bursche von über einsachtzig und mit dem brandroten Haar, wie es seine Mutter Rachel hatte. Er war ebenso sanft, wie sein Bruder Jakob wild war. Die Familie Rabinski war sehr arm. Sie lebte in dem südwestlichen Teil von Rußland, der Bessarabien, die Ukraine, die Krim und Teile von Weißrußland umfaßte und als jüdische Zone bekannt war. Die Grenzen dieser Zone, der einzigen, in der Juden in Rußland ansässig sein durften, waren im Jahre 1804 festgesetzt worden, und das ganze Gebiet war nichts als ein riesiges Ghetto.
Die Abgrenzung dieses jüdischen Wohngebiets war nur ein Ereignis in einer jahrhundertelangen Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung. Diese jahrhundertelange Verfolgung erreichte einen kritischen Höhepunkt in der Regierungszeit Katharinas I., als eine Reihe von Pogromen gegen diejenigen Juden stattfand, die nicht gewillt waren, zum griechisch-katholischen Glauben überzutreten. Da alle Versuche, die Juden zu bekehren, völlig vergeblich waren, vertrieb Katharina I. schließlich einige tausend Juden aus Rußland. Die meisten von ihnen gingen nach Polen.
Es folgte die Zeit der Eroberungskriege, in denen Polen erobert und wieder erobert, geteilt und erneut geteilt wurde. Katharina II. erbte dabei die Juden, die vorher von Katharina I. vertrieben worden waren.
Diese Ereignisse führten in direkter Folge zur Errichtung des abgegrenzten jüdischen Wohngebietes. Im Jahre 1827 wurden die Juden erbarmungslos aus den kleineren Ortschaften in die bereits überfüllten jüdischen Viertel der größeren Städte getrieben. Im gleichen Jahr ordnete der Zar an, daß jährlich eine bestimmte Anzahl
von Juden als Rekruten in das russische Heer einzutreten und eine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit abzuleisten hätten.
Simon Rabinski, Schuhmacher im Ghetto von Schitomir, sein treues Weib Rachel und seine Söhne Jakob und Yossi waren Gefangene des jüdischen Wohngebietes und einer ganz bestimmten, feststehenden Lebensform. Zwischen den jüdischen Gemeinden und der übrigen russischen Bevölkerung bestanden keinerlei gesellschaftliche und sehr wenig geschäftliche Verbindungen. Die einzigen regelmäßigen Besucher, die aus der Außenwelt in die abgeschlossene Welt der Juden kamen, waren die Steuereinnehmer, die alles, was nicht niet-und nagelfest war, mitgehen ließen. Häufige, wenn auch nicht ebenso regelmäßige Besucher waren wilde Horden von Kosaken, Bauern und Studenten, die es nach Judenblut dürstete.
In ihrer Isolierung empfanden die Juden nur geringe oder gar keine Loyalität für »Mütterchen Rußland«. Ihre Umgangssprache war nicht Russisch, sondern Jiddisch. Die Sprache ihrer Gebete war das alte Hebräisch. Die Juden unterschieden sich von ihrer russischen Umwelt vor allem auch durch ihre Kleidung. Sie trugen schwarze Hüte und lange Kaftane. Obwohl es durch Gesetz streng verboten war, trugen viele von ihnen Schläfenlocken, und es war ein für die Russen beliebter Sport, einen Juden zu fangen und ihm seine langen Locken abzuschneiden.
Simon Rabinski lebte nicht anders, als sein Vater und sein Großvater im Ghetto gelebt hatten. Da sie so arm waren, wurde lange um ein paar Kopeken gefeilscht. Dennoch aber, ungeachtet allen Elends der tragischen Existenz, hielten sich Simon Rabinski und alle anderen Juden innerhalb des Ghettos bei allen geschäftlichen Dingen an einen starren Ehrenkodex. Niemand durfte seinen Nachbarn schädigen, betrügen oder bestehlen.
Das Leben der Gemeinde bewegte sich um einen Mittelpunkt, den die göttlichen Gesetze, die Synagoge und der Rabbi darstellten. Der Rabbi war Lehrer, geistiger Führer, Richter und Gemeindevorsteher in einer Person. Rabbis waren zumeist große Gelehrte. Ihre Weisheit war häufig allumfassend, und ihre Autorität wurde nur selten, eigentlich fast nie, angezweifelt.
Viele Leute behaupteten, Simon Rabinski, der Schuhmacher, würde an Weisheit nur hinter dem Rabbi selbst zurückstehen. Im jüdischen Wohngebiet, wo fast alle arm waren und Not litten, war Weisheit der Maßstab für den Wohlstand eines Mannes. Simon versah in der Synagoge das Amt eines Vorbeters. Außerdem wurde er Jahr für Jahr in ein oder zwei hohe Ämter der jüdischen Gemeinde gewählt. Es war Simons höchster Wunsch, seine Söhne mit der Sehnsucht nach all dem Wunderbaren zu erfüllen, das der Geist zu erringen vermochte.
Die Juden nannten ihren Talmud ein »Meer«, und sie behaupteten, dieses Meer sei so groß, daß man niemals an das andere Ufer gelangen könnte, selbst wenn man sein ganzes Leben ausschließlich dem Studium des Talmud widme.
An einem Abend jeder Woche wurde Simon Rabinski und jeder andere Ghetto-Jude zu einem König. An diesem Abend ertönte im Ghetto das Horn, das zum Sabbath rief. Dann legte Simon das Werkzeug aus der Hand und machte sich bereit für den Tag, der seinem Gott gewidmet war. Wie liebte er den Klang des Horns! Es war der gleiche Ton, der die Menschen seines Volkes viertausend Jahre lang zum Gebet und zur Schlacht gerufen hatte. Dann ging Simon in das rituelle Bad, während sein braves Weib Rachel die Sabbathkerzen entzündete und ein Gebet sprach. Simon zog sein Sabbathgewand an, einen langen schwarzen Kaftan aus Seide und einen prächtigen, pelzverbrämten Hut. Stolz ging er zur Synagoge, Yossi an der einen und Jakob an der anderen Hand.
Kamen sie wieder nach Haus, so versammelte man sich zum Sabbathmahl, an dem nach alter Tradition eine Familie teilnahm, die noch ärmer war als die seine. Die Kerzen brannten, auf dem Tisch standen Brot und Sabbathwein, und Simon sprach den Segen und dankte Gott.
Am Sabbath betete und meditierte Rabinski. Er sprach mit seinen Söhnen und fragte sie nach dem, was sie gelernt hatten, behandelte mit ihnen religiöse und philosophische Fragen.
War der Sabbath vorbei, so kehrte Simon Rabinski in die bittere Wirklichkeit seines Lebens zurück. In dem feuchten Keller, der Werkstatt und Heim zugleich war, saß er bei Kerzenlicht über seine Schusterbank gebeugt und führte mit seinen faltigen Händen kunstgerecht ein Messer durch das Leder.
Simon Rabinski war ein frommer Mann. Doch selbst ein Mann von seiner großen Frömmigkeit konnte die Augen nicht vor dem Elend verschließen, das ihn rings umgab. »Wie lange noch, o Herr, wie lange?« fragte er dann wohl. »Wie lange sollen wir noch in diesem Abgrund der Finsternis verbringen?« Doch sein Herz wurde leicht und Begeisterung ergriff ihn, wenn er seine Lieblingsstelle aus dem Pessachgebet wiederholte: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«
Nächstes Jahr in Jerusalem?
Würde es jemals kommen, dieses Nächste Jahr? Würde der Messias je erscheinen und sie in die Heimat führen?
III.
Nicht nur die Juden lebten in bitterem Elend. Ganz Rußland, besonders die Landbevölkerung, wurde immer wieder von Hungersnöten heimgesucht. Die Herren des Landes verharrten in den Anschauungen des Feudalismus, widersetzten sich der Industrialisierung und beuteten ihre Untertanen aus.
Das Volk murrte; es gärte im ganzen Land, überall entstanden Reformbewegungen, bildeten sich Gruppen, die bestrebt waren, die bestehenden Zustände zu ändern und bessere Lebensbedingungen herbeizuführen. Zwar hatte sich Zar Alexander II. endlich bereit gefunden, die Leibeigenschaft aufzuheben und einige Bodenreformen durchzuführen; doch diese Maßnahmen kamen zu spät und waren völlig unzureichend.
In dem Bestreben, die Aufmerksamkeit des Volkes von den wahren Ursachen der Mißstände abzulenken, beschlossen die Drahtzieher, die dem Zaren zur Seite standen, den Antisemitismus als politische Waffe zu verwenden. Sie starteten eine Kampagne, bei der sie die Anzahl der jüdischen Mitglieder der verschiedenen Reformbewegungen übertrieben hoch angaben und behaupteten, es handle sich nur um ein Komplott jüdischer Anarchisten, die darauf ausgingen, das zaristische Regime um des eigenen Profits willen zu stürzen.