Выбрать главу

»Ich bin gekränkt«, sagte er schließlich.

»Deshalb hatten wir dir ja auch nichts davon gesagt, Vater«, sagte Yossi. »Wir wollten dich nicht kränken.«

»Ich bin nicht gekränkt, weil ihr zu einer Versammlung der Zionsfreunde gegangen seid. Ich bin gekränkt, weil die Söhne von Simon Rabinski so gering von ihrem Vater denken, daß sie sich ihm nicht mehr anvertrauen.« Jetzt wand sich auch Jakob verlegen. »Aber«, sagte er, »wenn wir es dir gesagt hätten, dann hättest du uns vielleicht verboten, hinzugehen.«

»Sag mir, Jakob — wann habe ich euch jemals verboten, Wissen zu erwerben? Habe ich euch jemals ein Buch verboten? Gott verzeih mir — selbst, als es euch in den Sinn kam, das Neue Testament lesen zu wollen — habe ich es euch verboten?«

»Nein, Vater«, sagte Jakob.

»Mir scheint, es ist höchste Zeit, daß wir einmal miteinander reden«, sagte Simon.

Yossis rotes Haar leuchtete im Schein der Kerze. Er war um einen halben Kopf größer als sein Vater. Er sprach fest und bestimmt. Yossi war zwar langsam von Entschluß, doch wenn er sich erst einmal entschlossen hatte, blieb er dabei. »Jakob und ich haben dir nichts davon gesagt, weil wir wissen, was du von den Zionsfreunden und den neuen Ideen hältst, und weil wir dich nicht verletzen wollten. Aber ich bin froh, daß ich heute abend hingegangen bin.« »Auch ich finde es gut, daß du hingegangen bist«, sagte Simon. »Rabbi Lipzin möchte gern, daß ich in die Mannschaft zur Verteidigung des Ghettos eintrete«, sagte Yossi.

»Rabbi Lipzin bricht mit so vielen Traditionen, daß ich mich allmählich frage, ob er überhaupt noch ein Rabbi ist«, sagte Simon. »Das ist es ja gerade, Vater«, sagte Yossi. »Du hast Angst vor den neuen Ideen.« Es war das erstemal, daß Yossi so zu seinem Vater sprach, und er schämte sich im gleichen Augenblick.

Simon kam hinter seiner Werkbank hervor, legte seinen Söhnen die Hände auf die Schultern, führte sie zu ihrem Alkoven und bat sie, sich auf die Betten zu setzen. »Meint ihr denn, ich wüßte nicht genau, was in euren Köpfen spukt? Neue Ideen, wahrhaftig! Von Emanzipation und Ghettoverteidigung war genauso die Rede, als ich in eurem Alter war. Ihr macht nur eine Krise durch, die jeder Jude durchmachen muß — um seinen Frieden mit der Welt zu machen — um zu wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Ich habe als junger Mensch sogar einmal daran gedacht, den christlichen Glauben anzunehmen!«

Yossi war verblüfft. Sein Vater hatte daran gedacht, zu konvertieren!

»Warum sollte es falsch sein, daß wir uns verteidigen wollen?« fragte Jakob. »Warum wird es von unseren eigenen Leuten als Sünde betrachtet, wenn wir versuchen, uns bessere Lebensbedingungen zu verschaffen?«

»Du bist Jude«, antwortete sein Vater, »und das bringt bestimmte Verpflichtungen mit sich.«

»Auch die Verpflichtung, daß ich mich unter meinem Bett verkrieche, wenn man mich töten will?« sagte Jakob laut und heftig.

»Sprich nicht so mit Vater«, sagte Yossi.

»Niemand hat behauptet, es sei leicht, Jude zu sein. Wir sind nicht da, um von den Früchten dieser Erde zu leben. Wir sind in die Welt gestellt, um über die Gebote Gottes zu wachen. Das ist unsere Mission. Das ist unsere Aufgabe.«

»Und das ist unser Lohn!« gab Jakob heftig zurück.

»Der Messias wird erscheinen und uns in das Land unserer Väter führen, wenn der Herr in seiner Güte die Zeit für gekommen hält«, sagte Simon, unverändert ruhig und gelassen. »Und ich glaube nicht, daß es Jakob Rabinski ansteht, Zweifel zu hegen an der Weisheit des Herrn. Ich glaube vielmehr, daß es Jakob Rabinski ansteht, zu leben nach den Geboten der heiligen Thora.«

Jakob schossen vor Zorn die Tränen in die Augen. »Ich zweifle nicht an Gottes Geboten«, rief er, »aber ich zweifle an der Weisheit einiger Männer, die diese Gebote auslegen.«

Es trat eine kurze Stille ein. Yossi schluckte. Noch nie hatte irgend jemand so zu seinem Vater gesprochen. Und doch bewunderte er heimlich den Mut seines Bruders. Denn Jakob hatte gewagt, die Frage zu stellen, die er selbst nicht zu stellen wagte.

»Wenn wir nach Gottes Ebenbild erschaffen sind«, fuhr Jakob fort, »dann ist der Messias in uns allen lebendig, und der Messias in meiner Brust sagt mir unablässig, daß ich mich erheben und zurückschlagen soll. Er sagt mir unablässig, daß ich mich mit den Zionsfreunden auf den Weg in das Gelobte Land machen soll. Das ist es, Vater, was mir der Messias sagt.«

Simon Rabinski blieb unerschütterlich. »Wir sind im Laufe unserer Geschichte immer wieder von Männern heimgesucht worden, die sich fälschlich als Messias bezeichneten. Ich fürchte, daß auch du jetzt einem solchen falschen Messias dein Ohr leihst.«

»Und woran soll ich den wahren Messias erkennen?« fragte Jakob herausfordernd.

»Die Frage ist nicht, ob Jakob Rabinski den Messias erkennt. Die Frage ist, ob der Messias den Jakob Rabinski erkennen wird. Wenn Jakob Rabinski von Gottes Geboten abweicht und falschen Propheten sein Ohr leiht, dann wird der Messias ohne Zweifel erkennen, daß Jakob Rabinski aufgehört hat, Jude zu sein. Ich möchte Jakob Rabinski daher empfehlen, weiterhin als ein Jude zu leben, wie es sein Vater und seines Vaters Väter getan haben.«

IV.

»Schlagt die Juden tot!«

Ein Steinschlag durchschlug das Fenster des Seminars. Eilig brachte der Rabbi seine Schüler durch den hinteren Ausgang in die Sicherheit des Kellers. Durch die Straßen hasteten Juden, die sich in wilder Flucht vor einer aufgebrachten Meute von mehr als tausend Primanern und Kosaken in Sicherheit zu bringen versuchten.

»Schlagt die Juden tot!« schrien sie. »Schlagt die Juden tot!«

Wieder einmal fand ein Pogrom statt, inszeniert von Andrejew, dem buckligen Direktor des Städtischen Gymnasiums und dem größten Judenhasser von Schitomir. Andrejews Schüler zogen randalierend durch das Ghetto, zertrümmerten die Schaufenster, schleppten alle Juden, die sie erwischten, auf die Straße und schlugen erbarmungslos auf sie ein.

»Schlagt sie tot, die Juden — schlagt sie tot — schlagt sie tot!«

Jakob und Yossi hielt es nicht im Keller des Seminars. Sie rannten durch schmale Gäßchen und ausgestorbene Seitenstraßen nach Haus, um ihre Eltern zu beschützen. Mehrfach mußten sie ausweichen und in Deckung gehen, wenn sich das Getrappel der Kosakenpferde und das blutrünstige Geschrei der Menge näherte. Sie bogen in die Straße ein, in der die Werkstatt ihres Vaters lag, und prallten auf ein Dutzend junger Burschen mit bunten Mützen. Schüler von Andrejew.

»Da sind zwei von denen!«

Jakob und Yossi machten kehrt und liefen davon, um das Rudel der Verfolger von der Wohnung ihrer Eltern abzulenken. Mit Gejohle setzten die Gymnasiasten den beiden Brüdern nach. Lange ging die Jagd kreuz und quer durch die Straßen und Gäßchen, über Hinterhöfe und Gartenzäune, bis die Verfolger sie in einer Sackgasse stellten. Yossi und Jakob standen mit dem Rücken gegen die Wand, schwitzend und keuchend, während die Angreifer einen Halbkreis bildeten und auf sie eindrangen. Ihr Anführer trat mit funkelnden Augen vor, schwang ein Eisenrohr und holte aus zum Schlag auf Yossi.

Yossi wehrte den Schlag ab, packte den Angreifer, hob ihn hoch und warf ihn der übrigen Meute entgegen. Jakob nahm zwei von den Steinen, die er immer bei sich trug, aus einer Tasche und schleuderte sie gegen die Köpfe zweier Angreifer, die bewußtlos zu Boden fielen. Die anderen Gymnasiasten stoben in wilder Flucht davon.

Die beiden Brüder stürzten nach Haus und rissen die Tür der Werkstatt auf.

»Mama! Papa!«

Die Werkstatt war ein Trümmerfeld.

»Mama! Papa!«

Sie fanden ihre Mutter, die wie von Sinnen in einer Ecke kauerte. Yossi schüttelte sie heftig. »Wo ist Papa?«