»Die Thora!« schrie sie. »Die Thora!«
In diesem Augenblick wankte, sechs Querstraßen weiter, Simon Rabinski in die brennende Synagoge und bahnte sich keuchend den Weg zum Ende des Raumes, dorthin, wo der Thoraschrein stand. Er zog die Vorhänge beiseite, auf denen die Zehn Gebote geschrieben standen, und holte das Sefer Thora herunter, die Rolle mit den Geboten Gottes.
Simon drückte das heilige Pergament an seine Brust, um es vor den Flammen zu schützen, und wankte zur Tür zurück. Er hatte schwere Verbrennungen erlitten und war dem Ersticken nahe. Er wankte durch die Tür nach draußen und fiel auf die Knie.
Zwanzig der Schüler Andrejews erwarteten ihn.
»Schlagt den Juden tot!«
Simon kroch noch ein paar Meter auf den Knien weiter, dann brach er zusammen und beschützte, am Boden liegend, das Sefer Thora mit seinem Leib. Knüppel zerschmetterten seinen Schädel, genagelte Schuhe traten ihm ins Gesicht.
»Schlagt den Juden tot!«
In seiner Todesqual rief Simon Rabinski laut: »Höre, o Israel — der Herr ist unser Gott!«
Simon Rabinski war, als man ihn fand, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Sefer Thora, die Rolle mit den Geboten, die Gott dem Moses verkündet hatte, war dem Alten vom Mob abgenommen und verbrannt worden.
Das ganze Ghetto von Schitomir betrauerte seinen Tod. Er hatte den ehrenvollsten Tod erlitten, den es für einen Juden geben konnte. Er hatte das Sefer Thora mit seinem Leib geschützt! Er wurde zusammen mit einem Dutzend anderer bestattet, die gleich ihm bei Andrejews Pogrom umgebracht worden waren.
Für Rachel Rabinski war der Tod ihres Mannes nur eine weitere Tragödie im Verlauf eines Lebens, in dem sie kaum etwas anderes gekannt hatte als Kummer und Sorgen. Doch diesmal ging es über ihre Kraft. Auch ihre Söhne waren ihr kein Trost. Man brachte sie zu Verwandten, die in einer anderen Stadt wohnten. Yossi und Jakob gingen jeden Tag zweimal zur Synagoge, um für ihren Vater Kaddisch zu beten. Yossi mußte daran denken, wie sehr sein Vater bestrebt gewesen war, das Leben eines Juden zu führen, damit ihn der Messias erkenne. Es war seine Lebensaufgabe gewesen, über Gottes Gebote zu wachen. Vielleicht hatte sein Vater recht gehabt — vielleicht war es nicht ihr Los, von den Früchten der Erde zu leben, sondern als Wächter der göttlichen Gebote zu dienen. In seinem Schmerz versuchte Yossi, eine Erklärung für den grausamen Tod seines Vaters zu finden.
In Jakob sah es anders aus. Sein Herz war voller Haß, und selbst wenn er zur Synagoge ging, um das Klagegebet für seinen Vater zu sprechen, sann er auf Rache. Er war unruhig und voller Bitterkeit. Er schwor grimmig, den Tod seines Vaters zu rächen.
Yossi, der wußte, wie es um seinen Bruder stand, ließ ihn nicht aus den Augen. Er versuchte, ihn zu beruhigen und zu trösten, doch Jakob war untröstlich.
Einen Monat nach dem Tod von Simon Rabinski schlich sich Jakob eines Nachts, während Yossi schlief, heimlich aus der Werkstatt. In seinem Gürtel hatte er ein langes scharfes Messer versteckt, das er von der Schusterbank seines Vaters genommen hatte. Er wagte sich aus dem Ghetto hinaus und begab sich zu der Wohnung Andrejews, des Judenhassers.
Ein instinktives Gefühl ließ Yossi wenige Minuten später wachwerden. Als er sah, daß Jakob fort war, kleidete er sich hastig an und rannte ihm nach. Er ahnte, wohin sein Bruder gegangen war. Gegen vier Uhr morgens hob Jakob Rabinski den Messingklopfer an der Tür von Andrejews Wohnung. Als der bucklige Andrejew die Tür öffnete, sprang Jakob auf ihn zu und rannte ihm das Messer tief ins Herz. Andrejew stieß einen kurzen Schrei aus und fiel tot zu Boden.
Als Yossi kurz danach angestürzt kam, fand er seinen Bruder, der wie hypnotisiert die Leiche des Mannes anstarrte, den er ermordet hatte. Er zog Jakob fort, und beide flohen.
Den ganzen nächsten Tag und die folgende Nacht hielten sie sich im Keller des Hauses von Rabbi Lipzin verborgen. Die Nachricht von der Ermordung Andrejews war wie ein Lauffeuer durch Schitomir gegangen. Der Ältestenrat des Ghettos versammelte sich und faßte einen Beschluß.
»Wir haben Anlaß, zu befürchten, daß man euch erkannt hat«, sagte der Rabbi, als er von der Versammlung nach Haus kam. »Dein rotes Haar, Yossi, ist einigen der Gymnasiasten aufgefallen.«
Yossi biß sich auf die Lippe und sagte nicht, daß er nur versucht hatte, die Tat zu verhindern. Jakob zeigte keinerlei Reue, sondern sagte: »Ich würde es ein zweitesmal tun, gern sogar.«
»Wenn wir auch durchaus verstehen, was euch zu dieser Tat getrieben hat«, sagte der Rabbi, »so können wir sie dennoch nicht gutheißen. Es ist sehr wohl möglich, daß es durch euch zu einem weiteren Pogrom kommt. Andererseits — wir sind Juden, und es gibt für uns vor einem russischen Gericht kein Recht. Wir haben einen Beschluß gefaßt, dem ihr euch zu fügen habt.«
»Ja, Rabbi«, sagte Yossi.
»Ihr müßt eure Locken abschneiden und euch wie die Gojim kleiden. Wir werden euch Nahrung und Geld für eine Woche geben. Ihr müßt Schitomir sofort verlassen und dürft nie mehr hierher zurückkehren.«
So wurden Jakob und Yossi Rabinski, der eine vierzehn und der andere sechzehn Jahre alt, im Jahr 1884 Flüchtlinge. Sie gingen nach Osten, wanderten nur bei Nacht auf der Landstraße und hielten sich tagsüber verborgen. Sie erreichten Lubny, rund dreihundert Kilometer von Schitomir entfernt, suchten sofort das Ghetto auf und begaben sich zum Rabbi. Von ihm erfuhren sie, daß ihnen die Kunde ihrer Tat schon vorausgeeilt war. Der Rabbi berief den Ältestenrat, und man beschloß ohne Zögern, den beiden Brüdern für eine weitere Woche Nahrung und Geld mit auf den Weg zu geben.
Yossi und Jakob machten sich von neuem auf den Weg. Ihr nächstes Ziel war Charkow, rund zweihundertundfünfzig Kilometer entfernt, wo man vielleicht nicht so eifrig nach ihnen fahndete. Der Rabbi von Charkow wurde unterrichtet, daß die beiden Rabinskis dorthin unterwegs seien.
Doch die ganze Gegend war alarmiert, und die beiden Brüder konnten sich nur mit größter Vorsicht bewegen. Sie brauchten zwanzig Tage, um nach Charkow zu kommen. Überall im ganzen jüdischen Wohnbezirk befand sich ihr Steckbrief, und für alle Russen war es geradezu eine heilige Pflicht geworden, nach den beiden Brüdern zu fahnden. Zwei Wochen lang hielten sie sich in dem feuchten Keller unter der Synagoge von Charkow verborgen. Nur dem Rabbi und einigen der Ältesten war ihre Anwesenheit bekannt. Schließlich erschien Rabbi Solomon bei ihnen und sagte: »Ihr seid selbst hier nicht sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man euch entdeckt. Schon jetzt schnüffelt die Polizei hier herum und fragt die Leute aus. Und nun, da der Winter bevorsteht, wird es für euch fast unmöglich sein, weiterzukommen.« Der Rabbi seufzte und schüttelte den Kopf. »Wir haben auch versucht, Papiere für euch zu beschaffen, damit ihr die Grenzen des jüdischen Wohngebiets überschreiten könnt, doch ich fürchte, das ist unmöglich. Ihr seid bei der Polizei allzu bekannt.«
Der Rabbi ging unruhig hin und her. »Wir sind zu der Einsicht gekommen, daß es nur eine Möglichkeit gibt. Es wohnen hier im Distrikt einige jüdische Familien, die sich taufen ließen und jetzt als Kleinbauern leben. Wir meinen, es wird für euch das sicherste sein, wenn ihr euch zumindest bis zum Frühling bei einer dieser Familien verbergt.«
»Rabbi Solomon«, sagte Yossi, »wir sind euch für alles, was ihr für uns getan habt, sehr dankbar. Doch mein Bruder und ich haben etwas anderes beschlossen.«
»So? Und was habt ihr beschlossen?«
»Wir wollen nach Palästina«, sagte Jakob.
»Nach Palästina?« sagte der Rabbi erstaunt. »Wie denn?«
»Wir haben uns einen Weg dorthin überlegt. Gott wird uns helfen.« »Ich zweifle nicht daran, daß euch Gott helfen wird, aber er läßt sich auch nicht dazu zwingen, ein Wunder zu tun. Es sind gut und gern sechshundert Kilometer bis zum Hafen von Odessa. Und selbst wenn ihr Odessa erreichen solltet, wie wollt ihr ohne Papiere auf ein Schiff kommen?«