Es war ein sehr großer Raum, und der altmodischste im ganzen altmodischen Institutsgebäude. Die Sitze stiegen nach hinten zu immer steiler an, so dass die beiden Gänge flache Stufen hatten. Die Sitze in den letzten Reihen zogen sich links und rechts nach vorn herum und bildeten eine Art Balkon.
Der Raum war insgesamt für 250 Personen eingerichtet, so dass er zumeist für Seminare benutzt wurde und für Prüfungen, bei denen man die Studenten relativ weit auseinander setzen konnte. Der Kursus in organischer Chemie für die ersten Semester umfasste jedoch nur vierundsechzig Studenten, die in ihrer Mehrzahl gewöhnlich in der Mitte vor dem Pult Platz nahmen und von dort nach allen Seiten ausfächerten. Es gab keine formelle Sitzordnung, so dass dieses spontane Ergebnis, wie sich Brade sagte, mathematisch als ein Fall von Diffusion betrachtet werden konnte.
Er hatte auch beobachtet, dass die weniger begabten Studenten im allgemeinen am weitesten hinten saßen. Wie kam das? Hofften sie, auf diese Weise nicht bemerkt zu werden? Erstrebten sie in unbewusster Bescheidenheit eine Trennung von ihren klügeren Kommilitonen? Fanden sie den Dozenten langweilig und aus der Ferne erträglicher als aus der Nähe?
Für Verhaltensforscher wäre das ein Thema für eine Untersuchung gewesen.
Natürlich unterschied sich heute die Sitzordnung deutlich von der anderer Tage. Es gab keine »Diffusion«. Die vierundsechzig Studenten hatten sich in einem dichten Knäuel vor dem Katheder versammelt, als hätte sie eine Riesenhand von hinten nach vorn zusammengedrückt. Louis Brade auf dem Kathederpodium rückte unwillkürlich an seiner Brille.
Sie wollen mich beobachten, dachte er. Sie wollen sehen, was ich für ein Gesicht mache, wo jetzt einer meiner Studenten gestorben ist. Oder war es nur die allgemeine Faszination des Todes? Er begann in dem nüchternen, gleichmäßigen Ton, den er immer bei solchen Gelegenheiten anschlug. »Wir kommen heute zu mehreren wichtigen chemischen Verbindungen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass in ihren Molekülen ein Kohlenstoff und ein Sauerstoffatom enthalten sind, die durch eine doppelte Bindung miteinander verknüpft sind.«
Er zeichnete die Karbonylgruppe auf die Tafel.
Seine Stimme klang ihm völlig normal im Ohr. Ausnahmsweise einmal war er für seinen Vortragsstil dankbar, der bewusst jede persönliche Note in der Modulation ausschaltete.
Dieser Stil war genau das Gegenteil des Stils, den beispielsweise Merrill Foster bevorzugte, der andere Vertreter der organischen Chemie in der Fakultät (sieben Jahre auf seinem Posten jetzt, assistierender Professor wie Brade, intelligent, ehrgeizig - und ein Angeber). Foster hielt die Vorlesung über synthetische organische Chemie für die fortgeschrittenen Semester. Wenn Brade daran dachte, fiel ihm immer wieder der Tag ein, an dem Foster mit dieser Vorlesung beauftragt worden war - und die Art, wie Doris darauf reagiert hatte. Doris hatte nicht begreifen wollen, dass der Anfängerkurs der schwierigere und mit mehr Verantwortung belastet war. Die Vorlesung für Fortgeschrittene besuchten nur fünfzehn Studenten und keine vierundsechzig. Foster las dreimal wöchentlich, während Brade sich seinem Anfängerkurs fünfmal widmen musste. Aber für Doris bedeutete weniger Vorlesungen und weniger Hörer nicht weniger Verantwortung, sondern ein leichteres Leben. Und gleichzeitig sah sie es als die wichtigere Position an, als ob der Status eines Dozenten bestimmt würde durch den vergleichsweisen Status der jeweiligen Studenten. Brade versuchte Doris zu erklären, dass es gerade die älteren und erfahreneren Mitglieder des Lehrkörpers waren, die mit der Ausbildung der Anfänger beauftragt wurden. Mit älteren Semestern konnte jeder frischgebackene Doktorand umgehen. Und dazu missbilligte Brade die Art, wie Foster seine Vorlesungen gestaltete. Foster schlug einen geistreichen, bewusst saloppen Ton an, der manchen Studenten gefiel, aber auch der Disziplin abträglich war. Foster bezeichnete das im Verlauf einer Synthese bei Nebenreaktionen anfallende nutzlose Material als »Schmier« oder »Mist«. Er fügte nie einfach Pyridin hinzu, sondern gab einer Reaktion »einen Spritzer Pyridin«.
Noch schlimmer schien Brade, dass Foster in seinen Vorlesungen immer wieder abschätzige Bemerkungen über Studenten im allgemeinen und gewöhnlich auch über einen bestimmten Studenten im besonderen fallen ließ - vorzugsweise über einen, der sich zu Erwiderungen und zu einem Rededuell zwischen Dozentenpult und Hinterbank hinreißen ließ, einem Duell, welches das Dozentenpult jederzeit gewinnen konnte.
Brade fuhr fort: »Das Kohlenstoffatom der Karbonylgruppe hat, wie Sie sehen, zwei freie Wertigkeitsbindungen, die am einfachsten durch zwei Wasserstoffatome ausgefüllt werden. In diesem Falle erhalten wir Formaldehyd.«
Eigenartig, wie er dozieren und gleichzeitig beobachten konnte, wie sein Denken untergründig weiterarbeitete. Das erinnerte ihn an den alten Witz von dem alten Professor, der zu einem Kollegen sagte: »Gestern nacht habe ich geträumt, ich stehe vor meinen Studenten am Vorlesungspult. Ich wachte plötzlich auf, und da war's auch tatsächlich so!«
Ralph Neufeld hatte Fosters Kurs nur mit der Note C abgeschlossen. Brade hatte versucht, darüber mit ihm zu sprechen, war aber auf hartnäckiges Schweigen gestoßen. Ralph Neufeld hatte nur zu erkennen gegeben, dass er gegen Foster eine persönliche Abneigung gefasst hatte.
Brade glaubte damals zu wissen, was passiert war. Ralph war genau der Typ, der Foster zu seinen spitzen Bemerkungen veranlasste, der die Ironie des Dozenten nicht still über sich ergehen lassen konnte. Falls Foster ihn zur Zielscheibe seines Spotts gemacht hatte, hatte Ralph es ihm vielleicht mit noch bissigeren Worten heimgezahlt. Es war schwer zu entscheiden, welchen Einfluss ein persönlicher Antagonismus auf die Note gehabt hatte, aber Brade beschloss, sich Fosters Formulierungen in den Fakultätsberichten über Ralph noch einmal genau anzusehen.
Er dozierte weiter und schrieb langsam die Gleichung an die Tafel, welche die Umwandlung von Methylalkohol in Formaldehyd darstellte, und fügte ihr die Gleichung für die Umwandlung von Äthylalkohol in Acetaldehyd hinzu. Er beschrieb sodann die dazu erforderlichen Bedingungen. Dies würde später zwangsläufig zu einer Diskussion über den zum Teil ionischen Charakter der Karbonylgruppe und ihre Resonanzformen führen.
Aber warum hatte jemand Ralph töten wollen? Wenn Professor Ranke mit ihm nicht zufrieden war, konnte er ihn aus seiner Laborgruppe hinauswerfen, wie er es ja auch getan hatte, und damit hatte er seinem Zorn gewiss genügend Ausdruck verliehen. Wenn Professor Foster mit ihm nicht zufrieden war, bedeutete eine Note C in den Papieren der Studenten ebenfalls Rache genug.
Und wenn sie wirklich ein Tatmotiv hatten, wie hatten sie dann bei dem Mord nach dieser speziellen Methode vorgehen können? Sie wussten doch nicht genau, wie Ralph seine Versuche durchführte. Aber er, Brade, wusste davon.
Und er hatte gleichsam schon den ersten Zipfel eines Tatmotivs.
Er konnte dem Gedanken nicht länger ausweichen. Er sah wieder Jean Makris' längliches Gesicht vor sich, spürte wieder die Wärme ihres Atems an seinem Kinn, als sie ihm das eben gesagt hatte.
Und sie hatte Ralph gehasst. Dieser Hass war ihr aus allen Poren gedrungen.
Aber warum sollte sie Ralph gehasst haben? Es gibt natürlich hundert Gründe, aus denen jemand einen anderen, vor allem ein Mädchen einen jungen Mann, hassen kann. Aber welcher Grund kam hier in Frage? Und warum sollte Ralph ihn, Brade, gehasst haben, verdammt noch mal? Er hatte dem Jungen geholfen; er hatte sich seiner angenommen, als andere ihn verstoßen hatten. Einen Augenblick lang verspürte Brade die nicht unangenehme Gefühlswallung des Selbstmitleids. »Die Leichtigkeit, mit der sich Aldehyde mit Sauerstoff verbinden, bedeutet natürlich, dass sie ausgezeichnete Reduktionsmittel sind. Diese Tatsache ist von Nutzen sowohl bei der Charakterisierung der Aldehyde wie auch ganz allgemein bei der organischen Synthese. Die ist auch von hervorragender Bedeutung bei der Zuckeranalyse. Früher wurde letztere zum Beispiel zur Entdeckung von Zucker im Urin angewandt, um festzustellen, ob Diabetes vorliegt. Heute benutzt man statt dessen eine enzymatische Methode.«