Brade wurde sich des ungezwungenen Tons bewusst, den Emmett ihm gegenüber anschlug. Bei ähnlichen Gelegenheiten war ihm das bisher gar nicht aufgefallen. Rankes Studenten machten immer den Eindruck, als stünden sie stramm, wenn sie mit ihm, Ranke, sprachen. (Nur, dachte Brade, was will ich eigentlich? Sollen sie vielleicht vor mir salutieren? Die Hacken zusammenschlagen?) Er sagte: »Und Ralph?«
Ein Schleier fiel über Emmetts Augen. »Wie meinen Sie, bitte?« »Was war mit Ralph, Charlie? Wie war er zu mir eingestellt?« »Tja.« Emmett räusperte sich lange. »Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt. Keiner hat ihn gut gekannt. Er hat nie viel geredet.« »Aber er konnte mich nicht leiden, wie?«
Emmett dachte einen Augenblick nach. »Er konnte niemanden leiden. Na ja, jedenfalls -« Er machte Anstalten, aufzustehen. Brade hob die Hand. »Moment noch. Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Es ist zwar jetzt etwas zu spät dafür, aber es interessiert mich nun mal. Ich möchte das wissen. Er hat mich nicht gemocht, nicht wahr?« Sehr widerwillig antwortete Emmett: >Ja, wenn Sie so fragen, Professor - nein, wahrscheinlich hat er Sie nicht gemocht.« »Und warum nicht? Haben Sie eine Ahnung?« (Dass er einen Studenten über einen anderen ausfragte, hatte etwas Peinliches. Aber er musste es jetzt wissen.)
»Ja, eigentlich- eigentlich, weil er ein Idiot war.« Emmett machte plötzlich ein betroffenes Gesicht. »Entschuldigen Sie, das habe ich nicht sagen wollen.«
Brade erwiderte ein wenig gereizt: »Oh, wir wollen doch nicht abergläubisch sein wegen abfälliger Bemerkungen über einen Toten. Wenn über jemanden etwas Gutes zusagen ist, so soll man's ihm sagen, solange erlebt und sich darüber freuen kann. Ein Toter hat nichts mehr davon. Ich halte es für Unsinn, wenn immer verlangt wird: Lobt ihn, wenn er tot ist, aber keine Sekunde früher.«
»Na ja, er kam einmal abends zu uns, als wir so in einer kleinen Clique beisammen waren. Wir sprachen über unsere Professoren und so, Sie wissen ja.«
>ja, ich kann's mir vorstellen«, sagte Brade, der sich plötzlich ganz deutlich an seine eigene Studienzeit erinnern konnte. »Und da sagte jemand, Foster entwickelte sich zu einer Art Sklaventreiber, Sie wissen schon, und da schaltete sich auf einmal Neufeld ein und sagte, die andere Sorte sei viel schlimmer; die Sorte, die einen Studenten untergehen oder schwimmen lasse und sich nicht im geringsten darum kümmere. So wie Sie, sagte er.« Brade nickte. »Ich verstehe.« Hatte er-genau im Gegensatz zu Cap Ansons AuffassungRalphs Hass deshalb auf sich gezogen, weil er ihm zuviel Freiheit gelassen hatte?
»Aber ich muss Ihnen etwas sagen, Sir«, fuhr Emmett fort. »Ich glaube nicht, dass es eigentlich Hass war. Ich habe ihn manchmal im Seminar beobachtet, während Sie sprachen; da hat er Sie so merkwürdig angesehen, besonders in den letzten Monaten. Das war ganz komisch.« Er verstummte.
»Ja«, sagte Brade scharf, »ja?«
»Ich bin kein Psychologe, Professor Brade. Aber trotzdem - ich glaube nicht, dass er Sie hasste, so wie er sich benommen hat. Er sah ganz so aus, als hätte er Angst vor Ihnen. Richtige Angst!«
7
»Angst vor mir?« fragte Brade in heftigem Ton. »Aber warum denn, Charlie?«
»Ja, das weiß ich auch nicht, Professor.« Sie sahen sich an. Dann sagte Brade: »Sind Sie sicher, Charlie? Diese Sache lässt mir keine Ruhe, und ich muss es wissen. Gibt es einen Grund, weshalb er vor mir hätte Angst haben sollen?«
Brade verspürte ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber Ralphs Tod und allem, was damit zusammenhing. Die Sache schien nur einen Sinn zu ergeben, wenn er selbst der Mörder gewesen wäre? Aber was für ein Motiv hätte er gehabt haben sollen?
Emmett wurde plötzlich ganz rot. »Ich sage das jetzt nicht gern - aber wenn Sie es wissen müssen, wenn Sie niemandem sagen, wer es Ihnen gesagt hat -« »Erzählen Sie schon.«
»Ich selbst weiß eigentlich nichts. Aber ich weiß, wer Ihnen weiterhelfen kann, wenn es überhaupt jemanden gibt.« »Wer?« »Roberta, Sir.«
»Roberta Goodhue?« fragte Brade verwirrt, obwohl er gar keine andere Roberta kannte als diese Studentin, die ebenfalls zum Kreis seiner Doktoranden zählte.
»Ja. Ich habe mich gar nicht dafür interessiert - ich meine, eigentlich weiß es niemand, aber da ich das Labor mit Roberta teile, merke ich ab und zu einmal was oder höre was, ohne es zu wollen.« Seine Verlegenheit hatte ein geradezu schmerzhaftes Stadium erreicht. »Sie -sie kannte ihn wohl ganz gut.« »Wie meinen Sie das?« Brade war ein wenig erschüttert. Wusste er denn gar nichts von seinen Studenten?
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Professor Brade. Ich will damit nur sagen, dass sie zusammen ausgegangen sind; so zwei-, dreimal. Ob mehr dahinter war, weiß ich nicht. Aber auch zwei, drei Verabredungen sind schon etwas. Ich meine, einem Mädchen, das man zum Essen einlädt, erzählt man sicher mehr als einer Gruppe von Kommilitonen in der Mensa, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ja, natürlich.« Brade nickte nachdenklich. »Ist Roberta heute da?« »Ich habe sie noch nicht gesehen, Professor.« »Ich nehme an, sie weiß, was passiert ist.«
»Ich denke schon. Ich habe gehört, dass Jean Makris sie angerufen hat.« Eine merkwürdige Andeutung eines Lächelns war über seine Lippen gehuscht, ehe Brade noch sicher sein konnte, dass er sich nicht getäuscht hatte.
»Na ja, ich danke Ihnen, Charlie. Das war nett, dass Sie mir in der Sache geholfen haben.«
»Oh, bitte sehr. Aber Sie sagen Roberta nichts, Sir, nicht wahr? Dass Sie das von mir haben, meine ich.« »Nein. Seien Sie unbesorgt.«
Er stand auf, um Emmett die Tür aufzumachen; da sah er einen Studenten, der draußen auf dem Gang herumschlich. Er musste noch einmal hinsehen, und dann erkannte er ihn: es war Gregory Simpson, sein neuester Student, der junge Mann, der mit Ralph Neufeld das Labor geteilt hatte.
»Wollten Sie mich sprechen, Greg?«
»Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben, Professor Brade.« Simpson hatte eine Tenorstimme und helle Augenbrauen, die fast unsichtbar waren, so dass seine blassen Augen irgendwie nackt wirkten. Die runde Nase verlieh seinem Gesicht einen komischen, gutmütigen Ausdruck.
»ja, kommen Sie nur herein.«
Die zwei Studenten nickten sich kaum zu.
Simpson war ein fleißiger Student, aber kein markanter Typ. (Brade seufzte. Die markanten Typen gingen eben dorthin, wo die staatlichen Forschungsgelder flossen.)
Er sagte: »Nun, Greg, was haben Sie auf dem Herzen?« Simpson setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben Emmett gesessen hatte. Er sagte, ein wenig unsicher: »Ich frage mich, wo ich bleiben soll, Professor Brade.« »Wieso? Sind Sie nicht in einem der Schlafsäle untergebracht?« »Nein, ich meine hier. In den Labors.«
»Oh.« Brade wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Aber - was ist da?« »Na ja, das Labor. Ralph Neufeld ist tot - und -«
»Sie meinen, Sie können es jetzt nicht mehr benutzen.« »ja -« Brade sagte in scharfem Ton: »Diese Sache ist vorbei. Erledigt. Das Labor gehört Ihnen, Ihnen allein, bis ein neuer Student bestimmt wird, der es mit Ihnen teilt.«
Simpson blieb sitzen und machte nicht den Eindruck, als ob er seine Sorgen los wäre.
»Sind Sie damit nicht zufrieden, Greg?«
»Nein, eigentlich nicht, Professor. Ich hätte lieber ein anderes Labor, wenn das möglich wäre.«
»Halten Sie es etwa für - verhext?« »N - nein.«
»Fürchten Sie, Ralphs Geist kommt zurück und setzt Ihnen zu?« Brade bemühte sich, keinen zu sarkastischen Ton anzuschlagen, aber er hatte einen schweren Tag hinter sich und war mit den Nerven bald am Ende. Simpson rieb sich die unsichtbaren Augenbrauen. »Nein, nein. Ich wollte nur - ich dachte, wenn es möglich wäre, ein anderes Labor zu bekommen - wenn nicht, ist es auch gut.« Er war völlig zerknirscht. Brade bedauerte seine Heftigkeit. Der einzelne war schließlich nicht verantwortlich für seine irrationalen Ängste, die ihm eine irrationale Gesellschaft eingeimpft hatte, und wer konnte schon sagen, dass er frei davon war.