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Der junge Mann hatte das eine Mädchen verlassen, vielleicht wollte er es mit dem anderen genauso machen. Und Roberta wusste besser mit Chemikalien Bescheid.

Konnte ein junger Mann, der der Welt so argwöhnisch gegenüberstand und in solchem Masse zum Verfolgungswahn neigte, auf die Dauer bei ein und demselben Mädchen bleiben, wie lieb und nett es auch zu ihm war? Musste es nicht früher oder später kleine Verstimmungen oder Missverständnisse geben, die sich mit der Zeit summierten und in seinem düsteren, einsamen Herzen den Hass nährten? Ralph hatte Roberta keinen Ring geschenkt. Er hatte niemandem von seinen Hochzeitsplänen erzählt. Charlie Emmett zum Beispiel hatte nichts davon gewusst. Offensichtlich hatte Ralph auch seiner Mutter nichts gesagt. Es gab keinen greifbaren Beweis dafür, dass er Roberta tatsächlich hatte heiraten wollen, nur seine Angaben gegenüber Roberta.

Wenn sie nun das Gefühl hatte, dass seine Liebe abkühlte oder nie mehr als lauwarm gewesen war? Wenn sie ihn nun drängte, wenn sie forderte, dass der Hochzeitstermin festgesetzt wurde, wenn sie einen Ring, eine öffentliche Ankündigung verlangte? Und wenn er sich dann drückte?

Oder wenn - das war doch möglich! - ein drittes Mädchen auftauchte? Roberta besaß genug Chemiekenntnisse, um ihn zu töten, und wenn sie es getan hatte, dann brauchte ihr jetziges Verhalten nicht gespielt zu sein. Ihr Kummer hatte verzweifelt aufrichtig gewirkt, aber sie konnte Ralph mit einem Teil ihrer Seele noch immer lieben, auch wenn sie ihn aus Rache getötet hatte. Sie mochte noch um ihr Opfer weinen und untröstlich sein.

Und sie kannte die Einzelheiten seiner Experimente, wusste besser darüber Bescheid als irgendein anderer. Besser wahrscheinlich, als selbst Emmett vermutet hatte. Doktoranden sprachen immer von ihren Versuchen, und wenn Ralph da anders war und sich aus pathologischem Argwohn zurückhielt, so gab er diese Verschlossenheit doch gewiss gegenüber dem einzigen Menschen auf, den er liebte und dem er Vertrauen schenkte.

Aber wie wollte er damit irgend etwas beweisen? Theorien waren schön und gut, er konnte ein Dutzend aufstellen. Theorien aufstellen war gewissermaßen sein Beruf. Aber in der Chemie wusste er, wie man eine Theorie nachprüfte. Auf dem Gebiet der Kriminalistik wusste er nicht, wie er sich dabei verhalten musste.

Er drehte sich mit seinen Überlegungen im Kreis und gab es auf. Er sah auf die Uhr. Kurz nach vier.

Vor etwa vierundzwanzig Stunden hatte er daran gedacht, nach Hause zu fahren, damit er zu seiner Fünf-Uhr-Verabredung mit Cap Anson zurechtkam. Er hätte sich dann das Manuskript angesehen, mit dem alten Mann einen Aperitif getrunken, ein, zwei Punkte mit ihm durchgesprochen und ihn wahrscheinlich zum Abendessen eingeladen. Aber dann war er in Ralphs Labor gegangen, weil er sich wie üblich verabschieden wollte (auch eine jener kleinen Gewohnheiten, die er von Cap Anson übernommen hatte) - und damit hatte alles angefangen. Jetzt dachte er wieder daran, nach Hause zu fahren, aber ohne jede Freude oder Erleichterung. Ansons Manuskript steckte noch immer ungelesen in seiner Mappe. Die Apparatur für den letzten Sauerstoffversuch in seinem Privatlabor war noch immer nicht abgebaut und verharzte langsam. Alles war ein Chaos.

Nun stand ein Wochenende bevor. Er blickte sich müde nach Dingen um, die er nützlicherweise mitnahm. Doris missbilligte seine Angewohnheit, Papiere, Zeitschriften und dergleichen mit nach Hause zu nehmen, aber es war nun einmal so, dass ein Fakultätsangehöriger, der seine Arbeit allein in der offiziellen Arbeitszeit erledigen musste, es einfach nicht schaffte.

Er seufzte. Er war absolut nicht in der Stimmung, Arbeiten von Studenten oder Versuchsaufzeichnungen mitzunehmen. Ansons Manuskript hatte er schon bei sich, und das musste er heute abend lesen. Morgen, am Samstag, würde Anson kommen, Ginny rechnete mit einem Besuch im Zoo, und am Abend gab Littleby seine kleine Gesellschaft. Und am Sonntag ruhte er sich am besten aus. Er hatte eine anstrengende Woche vor sich.

So nahm er außer dem Manuskript nichts mit. Er ließ die Mappe zuschnappen, warf den Mantel über den Arm und griff nach seinem Hut.

Er wandte sich der Tür zu und sah zu seiner Verblüffung eine verschwommene Silhouette durch den Milchglasausschnitt. Gleich darauf klopfte es.

Es war keiner seiner Studenten, auch niemand von seinen Kollegen. Im allgemeinen konnte er schon nach dem vagen Umriss sagen, wer es war.

Er öffnete ein wenig beunruhigt die Tür, und ein dickwangiger Mann trat ein, der breit lächelte und fröhlich sagte: »Hallo, Professor. Na, kennen Sie mich nicht mehr?«

Brade erkannte ihn sofort wieder. Es war der Kriminalbeamte von gestern abend. Jack Doheny.

9

Brade ließ seinen Hut fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. Er spürte, wie sich sein Gesicht rötete, aber Doheny lächelte ihn weiter an. Der Beamte kaute eifrig auf einem Kaugummi herum. »Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Doheny?« fragte Brade. »Nein - ich wollte etwas für Sie tun. « Doheny griff in seine innere Jackentasche und zog einen Schlüssel heraus. »Sie haben mich um diesen Schlüssel gebeten. Dachte, ich bringe ihn persönlich vorbei. Ralph Neufelds Laborschlüssel.«

»Oh.« Eine Welle der Erleichterung durchflutete Brade. Natürlich. Er hatte um den Schlüssel gebeten, und es war ganz natürlich, dass der Beamte ihn zurückbrachte. »Vielen Dank, Sir.«

»Der Junge hat außer seiner Mutter keine Angehörigen, wissen Sie.« Sein Blick wanderte kühl durch Brades Arbeitszimmer. Brade, der noch immer seinen Hut in der Hand hielt, stand da und wartete etwas ungeduldig darauf, dass Doheny die Tür freigab. Er sagte: »Ja, das habe ich inzwischen erfahren.«

»Ich bin gestern abend zu ihr gegangen, um sie zu verständigen. Das gehört leider auch zu meinem Job. Sie war ziemlich erschüttert. Hatte es schon vorher erfahren.« »Ach?«

»Ein Mädchen war bei ihr. Eine Ihrer Studentinnen.«

»Roberta Goodhue?« Sie hatte gesagt, dass sie bei Ralphs Mutter gewesen war. Von Doheny hatte sie aber nichts erwähnt.

»Ja. Die hatte es ihr erzählt. Ich fragte sie, wie sie es erfahren hatte. Sie sagte, jemand von der Universität hätte sie angerufen.« »Die Sekretärin der Institutsleitung. Ich hatte es ihr gesagt, und sie hatte geglaubt, Roberta benachrichtigen zu müssen. Roberta war mit dem jungen Mann befreundet.« »Ein schwerer Schlag für sie.« Doheny schüttelte den Kopf, machte aber noch keine Anstalten, den Weg freizugeben. »Ist das Ihr Zimmer, Professor?« »ja.«

»Sehr hübsch. Feinen Tisch haben Sie da. Könnte so was für meine Werkstatt im Souterrain gebrauchen. Sind Sie ein Do-ityourself-Mann?« »Nein, leider nicht.«

»Wie ich höre, ist das bei Professoren und so heutzutage groß im Schwange. Sie wissen, eigene Möbelfabrikation, Camping und so weiter.«

Brade nickte und versuchte seine Ungeduld zu verbergen. »Sagen Sie«, fragte Doheny, »halte ich Sie über Ihre Zeit hinaus auf? Gehen Sie sonst um diese Zeit?«

»Ich kann über meine Zeit frei verfügen. Manchmal bleibe ich bis Mitternacht, manchmal gehe ich schon mittags. Das kommt auf meinen Vorlesungsplan an und darauf, wie ich mich fühle.« »Tadellos«, sagte der Kriminalbeamte; man merkte, es war ihm ehrlich damit, »so müsste es bei jedem Job sein. Sind Sie gestern länger geblieben?« »Ich hatte es nicht vor. Ich hatte vielmehr vor, in ein paar Minuten zu gehen, da entdeckte ich die Leiche.«

»Und heute sieht es so aus, als würde ich Sie aufhalten. Aber das habe ich nicht vor.« Er trat endlich ohne besondere Eile zur Seite. »Schon gut«, sagte Brade steif. Er folgte Doheny hinaus auf den Flur und schloss sein Arbeitszimmer ab. Er steckte Neufelds Schlüssel erst mal an seinen Schlüsselring.