Ein untersetzter Kriminalbeamter blieb zurück. Er stellte sich vor, indem er seinen Ausweis vorzeigte. »Jack Doheny.« Er hatte Hängebacken, und seine Stimme war ein rauher Bass. »Ralph Neufeld.« Er notierte sich den Namen und zeigte dann Brade, was er geschrieben hatte. »So richtig? Hm - irgendwelche Angehörige, mit denen wir uns in Verbindung setzen können?« Brade hob den Kopf und dachte nach. »Ja, seine Mutter. Im Sekretariat wird man ihre Adresse haben.«
»Wir werden uns erkundigen. Tja, und wie ist das jetzt passiert?« »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn so gefunden.« »Hatte er Schwierigkeiten beim Studium?« »Nein, er war begabt. Denken Sie an Selbstmord?« »Selbstmörder benutzen manchmal Zyanid.« »Aber warum sollte er ein Experiment durchführen, wenn er sich nur das Leben nehmen wollte?«
Doheny sah sich misstrauisch im Labor um. »Das müssen Sie besser wissen als ich. Kann es ein Unfall, ein Versehen gewesen sein? Ich bin kein Chemiker.« Er machte mit der Hand eine Bewegung zu den Chemikalien hin.
»Theoretisch kann es natürlich ein Versehen gewesen sein«, sagte Brade. »Ralph war mit einer Reihe von Experimenten beschäftigt, bei denen er Natriumacetat in der Reaktionsmischung auflösen musste -« »Augenblick. Natrium - was?«
Brade buchstabierte das Wort, und Doheny notierte es ebenso sorgfältig. Brade fuhr fort: »Die Mischung wird auf dem Siedepunkt gehalten, und wenn das Acetat hinzugefügt worden ist, wird die Mischung in eine Säure verwandelt, so dass sich Essigsäure bildet.« »Ist Essigsäure giftig?«
»Nicht eigentlich. Sie ist im Essig enthalten. Sie verleiht ihm seinen besonderen Geruch. Die Sache ist jedoch die, dass Ralph Natriumzyanid verwandt haben muss - anstatt Natriumacetat.« »Wie ist das möglich? Sehen die gleich aus?«
»Überzeugen Sie sich selbst.« Brade holte die Flaschen mit Natriumzyanid und Natriumacetat von dem Regal herunter. Beide Flaschen waren aus braunem Glas, etwa zwanzig Zentimeter hoch, und beide waren auf die gleiche Weise etikettiert. Die Flasche mit Natriumzyanid hatte einen roten Zettel mit dem Wort GIFT. Brade schraubte die Plastikstöpsel beider Flaschen ab; Doheny sah vorsichtig hinein.
Er sagte: »Heißt das, dass diese Dinger immer so dicht nebeneinander auf dem Regal stehen?«
»Die Flaschen sind alphabetisch geordnet«, erwiderte Brade. »Halten Sie das Zyanid nicht unter Verschluss?«
»Nein.« Auf Brade lastete immer mehr das Bewusstsein, dass er sich seine Antworten überlegen musste, um nicht einen falschen Eindruck zu erwecken.
Doheny runzelte die Stirn. »Oh, da werden Sie aber Ärger kriegen. Wenn die Angehörigen des Jungen Ihnen wegen Fahrlässigkeit kommen, werden die Anwälte der Universität ins Schwitzen geraten.« Brade schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Von den Chemikalien, die Sie dort sehen, ist die Hälfte giftig. Chemiker wissen das. Sie sehen sich vor. Sie wissen, dass Ihre Pistole geladen ist, nicht wahr? Sie schießen sich damit ja auch keine Kugel in den Leib.« »Das mag für Chemiker gelten; aber der junge Mann hier war doch erst Student.« »Er war nicht erst Student. Ralph hatte vor vier Jahren sein erstes naturwissenschaftliches Examen gemacht - mit dem Abgang vom College. Und seitdem hat er sich auf sein Abschlussexamen und seinen Doktor vorbereitet. Er war durchaus dafür qualifiziert, ohne Überwachung zu arbeiten, völlig selbständig. Das gilt für alle unsere Doktoranden. Sie helfen sogar bei der Aufsicht in den Labors für die jüngeren Semester.« »Hat er hier ganz allein gearbeitet?«
»Nein, das nicht. Wir haben immer zwei Kandidaten für ein Labor. Zur Zeit teilt er sich das Labor mit Gregory Simpson.« »War der heute hier?« »Nein. Der Donnerstag ist Simpsons großer Vorlesungstag, da kommt er überhaupt nicht. Nicht in dieses Labor, zumindest.« »Dann war dieser Ralph Neufeld also ganz allein?« »Ja.»
»War er ein guter Student?«
»Er war sehr begabt, das sagte ich ja schon.«
»Wie konnte ihm das dann passieren? Ich meine, wenn er Zyanid genommen hat, hätte er doch merken müssen, dass der Essiggeruch fehlt, nicht wahr, und schleunigst den Kopf zurückziehen müssen?« Das Gesicht des Kriminalisten sah so rund und unschuldig aus wie zuvor, aber Brade zog die Brauen zusammen. Er sagte: »Wenn Natriumzyanid in eine Säure übergeht, bildet sich Wasserstoffzyanid. Das ist ein Gas von der Temperatur kochenden Wassers und strömt mit dem Dampf aus. Es ist äußerst giftig.«
Doheny sah Brade fragend an. »Das ist das Zeug, das sie im Westen in der Gaskammer verwenden, ja?«
»Ganz recht. Man verwandelt ein Zyanid in eine Säure, und dabei entsteht das Gas. Ralph hat zwar in einem Abzug mit einem eingebauten Ventilator gearbeitet, der die Dämpfe, die sich entwickeln, zum größten Teil nach oben reißt, aber auch so hätte er den Essiggeruch wahrnehmen können, wenn er vorhanden gewesen wäre. Diesmal hat er ihn nicht wahrgenommen, und da hat er sich wohl gedacht, dass da etwas nicht stimmt, wie Sie ganz richtig gesagt haben.« »Ja, ja.«
»Aber anstatt nun den Kopf zurückzuziehen und sich in Sicherheit zu bringen, war seine erste Reaktion wahrscheinlich die, dass er noch etwas näher gekommen ist, um sich zu vergewissern. Das könnte sein tödlicher Fehler gewesen sein.«
»Sie meinen, er hat sich gefragt, wo der Essiggeruch bleibt, hat sich vorgebeugt und eine richtige Ladung eingeatmet?« »Ja, so ungefähr. Er hatte den Kopf ziemlich weit im Abzug drin, als ich ihn fand.«
»Und aus war's mit ihm.« »Ja, wahrscheinlich.«
»Hm - ach, sagen Sie, darf ich hier rauchen - oder fliegt dann Ihre Bude in die Luft?«
»Im Augenblick besteht keine Gefahr.«
Doheny zündete sich eine Zigarre an - man sah ihm an, dass er lange auf diesen Augenblick gewartet hatte - und sagte: »Also fassen wir das noch einmal zusammen. Da ist ein junger Mann, der Natriumacetat verwenden will, aber dabei die falsche Flasche vom Regal greift - etwa so.«
Doheny nahm die Zyanidflasche vom Regal und hielt sie vorsichtig in der Hand. »Er trägt sie hier herüber und schüttet etwas davon heraus. Ja? Schüttet man das einfach so heraus?« »Nein, er hat sicher mit einem Spatel eine geringe Menge herausgenommen und sie in einem kleinen Behälter gewogen.« »Na schön. Also das tut er.« Er bewegte die Flasche hin und her und stellte sie auf die Arbeitsplatte neben den Abzug. Er starrte die Flasche an und dann Brade. »Und das wär's?«
»Ich nehme an - ja.«
»Und das stimmt mit der Situation überein, wie Sie sie beim Betreten des Labors angetroffen haben. Sie haben nichts entdeckt, was Ihnen merkwürdig vorkam, nein?«
Brade hatte den Eindruck, dass die Augen des Kriminalbeamten gespannt aufleuchteten, aber er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein -Sie?«
Doheny zuckte die Achseln. Er kratzte sich das schon schütter gewordene Haar mit dem Zeigefinger und sagte: »Unfälle gibt's ja überall, und besonders an einem Ort wie diesem hier, wo man sie direkt herausfordert.« Er klappte das kleine Notizbuch zu und steckte es in seine innere Rocktasche.
Er sagte: »Sie sind doch immer hier erreichbar, falls noch die eine oder andere Frage geklärt werden muss?« »Ja, natürlich.«
»Na schön. Und wenn ich Ihnen als Außenstehender einen Rat geben darf - als Laie -, dann halten Sie das Zyanid unter Verschluss.« »Ich werde es mir überlegen«, erwiderte Brade diplomatisch. »Ach, noch etwas, Ralph hatte einen Schlüssel für dieses Labor. Könnten Sie mir den schenken, wenn Sie keine Verwendung dafür haben?« »Natürlich. Also passen Sie gut auf sich auf, Professor. Lesen Sie die Etiketten auf diesen Flaschen da genau. Verwechseln Sie sie nicht!« »Ich will's versuchen«, sagte Brade.