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Doch manchmal hatte er einfach nicht die Energie, sich zur Wehr zu setzen, und lag dann da, allen grauen Gedanken ausgeliefert. Doris lag in tiefem Schlaf. Das Laternenlicht, das durch die Spalten der Jalousie und den Vorhang hereinfiel, erhellte ihr Gesicht gerade so viel, dass es mehr als ein beliebiger Fleck im Zimmer war, aber noch keine erkennbaren Züge hatte.

Sie schlief immer auf der Seite, er dagegen auf dem Bauch, und er fragte sich, wie es wohl kam, dass jeder Mensch seine besondere Schlaflage hatte. Warum war eine bestimmte Lage dem einen angenehm, dem andern unbequem? War es eine Angewohnheit aus der frühen Kindheit oder bestand ein physischer Unterschied in der Verteilung der Blutgefässe und Nervenenden?

Eine Weile klammerte er sich an dieses Problem, versuchte sich Experimente auszumalen, Theorien aufzustellen, die ihn in Schlaf lullen sollten - so wie ein anderer Schafe zählte -, aber es entglitt ihm alles wieder.

Plötzlich fiel ihn ein Gedanke an: Ich frage mich, ob sie von der Vase träumt.

Die Vase und der Ellenbogen. Warum hätte Ralph das getan haben sollen? Wenn er absichtlich die Vase zerbrochen hatte, hatte er es dann getan, weil er wusste, dass sie Doris viel bedeutete und unersetzlich war? Wollte er ihr stellvertretend für ihn, Brade, einen Schmerz zufügen? War es ein Ausdruck von Ralphs Hass auf seinen Professor?

Wie lange war Ralph damals schon sein Doktorand? Es war Weihnachten letztes Jahr gewesen, und damals arbeitete Ralph seit etwa einem halben Jahr unter Brades Obhut. Doris kannte er nicht, er hatte sie nie zuvor gesehen. Sie konnte es nicht gewesen sein, die er treffen wollte.

Sie nicht, sondern ihn, Brade, hatte er damit treffen wollen. Ihn, Brade, den er gehasst hatte. Und Jean Makris hatte recht. Aber weshalb hatte Ralph ihn gehasst?

Aber weshalb hatte Ralph ihn gehasst?

Man sprach so ungeniert von Motiven, als handelte es sich da um leicht definierbare mathematische Kräfte, die entweder in dieser oder in jener Richtung wirkten, vorhersehbar waren und sich analysieren ließen.

So einfach war das aber nicht. Es war vielmehr so, wie Doris gesagt und zu beweisen versucht hatte. Motive waren dunkle, verborgene Kräfte und komplex dazu. Was für den einen ein Tatmotiv war, ließ den anderen kalt, geradeso wie der eine auf dem Bauch herrlich einschlafen konnte - und der andere nicht. Wie sollte er sich da zurechtfinden? Er konnte nicht einmal die einzelnen Beweggründe seiner Frau erkennen, die er Tag für Tag sah. Er erkannte ihr Streben nach Sicherheit und verstand einige der Handlungen, zu denen sie dadurch getrieben wurde. Aber der Zusammenhang zwischen einer zerbrochenen Vase und einer fast hemmungslosen Mordlust war ihm entgangen. Übrigens-was bestimmte ihn selbst zu seinen Handlungen? Was drehte in seinem Innern die Rädchen? Wenn die Polizei nun kam und sagte: Brade, Sie sind ein Mörder. Sie haben ein Tatmotiv - was dann? Wie konnte er sich dagegen verteidigen? Kannte er seine eigenen Motive? Wenn die Polizei nun sagte, er habe es wegen Doris' Vase getan? Wie konnte er da nein sagen? Doris hatte gesagt, sie hätte Ralph dafür umbringen können, und die Polizei würde sagen, sie habe ihn zur Tat angestiftet.

Um sieben, bevor der Wecker klingeln konnte, war er wieder wach. Er erinnerte sich, im Laufe der Nacht aufgewacht zu sein, wusste aber nicht mehr, welche Gedanken ihn beunruhigt hatten.

Nur dass es um die zerbrochene Vase gegangen war.

Er hatte von ihr geträumt; ein Traum, der jetzt im Augenblick des Aufwachens abgerissen war. Sie hatte wie damals auf dem Tisch gestanden, nur dass ganz dünne, feine Linien zeigten, wo die einzelnen Bruchstücke aneinander stießen, und Doris rief ihm zu, er solle sie nicht anfassen, der Leim sei noch nicht getrocknet. Nur dass die Linien zwischen den Bruchstücken rot waren-wie Blut. Und dann war er aufgewacht.

Erst unter der Dusche ging ihm die Vase aus dem Sinn.

Auf Brades Anruf vom Vorabend hin traf Cap Anson pünktlich um neun Uhr ein, und Brade, der schon gefrühstückt hatte, ließ ihn durch die Tür ein, die direkt in sein Arbeitszimmer im Souterrain führte.

Anson legte seinen Stock hin und nahm auf einem der beiden Stühle Platz. »Na, wie sind Sie mit dem alten Berzelius zurechtgekommen, Brade?«

Brade zwang sich zu einem Lächeln. »Sehr selbstbewusster Mann.« »Er hatte auch Grund dazu. Er wurde in den Freiherrenstand erhoben.« »Oh, ja?«

»Ich komme in einem späteren Kapitel darauf zu sprechen. Es war an seinem Hochzeitstag. Er heiratete gegen Ende seines Lebens eine Frau, die dreißig Jahre jünger war als er, und der König von Schweden machte ihn zum Freiherrn, das war sein Hochzeitsgeschenk. Ich behandle das ausführlich. Weshalb soll eine Geschichte der organischen Chemie nicht auch eine Geschichte der organischen Chemiker sein?«

Brade wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Anson hatte jedenfalls zwischen Chemie und Chemiker immer einen Strich gezogen und sein Privatleben nie Einfluss auf seine Arbeit nehmen lassen. Man wusste, dass es einmal eine Mrs. Anson gegeben hatte, dass sie jetzt tot war. Anson lebte allein und wurde von seiner Haushälterin versorgt. Man wusste, dass er eine verheiratete Tochter hatte, die irgendwo im Mittelwesten lebte und Kinder hatte. Er sprach nie von seinen Angehörigen. Auf Entfremdung deutete nichts hin. Er sprach nur einfach nicht von ihnen, weil sie nichts mit Chemie zu tun hatten.

Brade sagte: »Wo persönliche Dinge in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der organischen Chemie stehen, sollten sie zur Sprache kommen. Zum Beispiel ist die Erhebung in den Freiherrenstand ein Ausdruck dafür, wie die damalige Gesellschaft Berzelius' Verdienste einschätzte. Die organische Chemie erwies sich als so wichtig für das tägliche Leben, dass es gerechtfertigt erschien, einen ihrer Vertreter zu adeln.«

Anson nickte langsam. »Ein gutes Argument. Vielen Dank. Jetzt habe ich einige Abschnitte über die Entdeckung des Selens gestrichen. Die ist natürlich, wie auch die ganze Sache mit der Lötrohranalyse, sehr interessant, gehört aber nicht zur organischen Chemie.« »Ganz richtig«, sagte Brade. »Das Buch wird ohnehin ziemlich umfangreich werden.«

»Na schön. Würden Sie sich jetzt einmal die Seite 82 ansehen. Ich bin noch nicht bis zur radikalen Theorie gekommen, aber das scheint mir die Stelle zu sein, wo sie hingehören müsste.« So machten sie weiter, die Köpfe zusammengesteckt, hoben Manuskriptblätter hoch, legten sie wieder hin, schoben sie zur Seite, holten sie wieder aus dem Stoss hervor, bis Doris' Stimme sie schließlich in die Alltagswelt zurückrief. »Lou, ich glaube, Virginia ist jetzt soweit.« Doris hatte, weil Anson da war, einen absichtlich sanften Ton angeschlagen. Brade blickte auf. »Gut, Doris. Ja, Cap, ich glaube, wir haben so ziemlich alles geschafft, was wir uns vorgenommen hatten. Wollen wir für heute Schluss machen?« »Haben Sie jetzt etwas vor?«

»Ja, ich gehe mit Ginny in den Zoo. Sie muss nächste Woche in Englisch irgendeinen Aufsatz schreiben, und da bekommt sie durch den Zoobesuch Stoff für ein Thema, sie hat ihren Spaß, und Doris ist uns ein paar Stunden los. Drei Fliegen mit einer Klappe.« Er lächelte kurz, stand auf, schob die Seiten des Kapitels zusammen und legte zum Beschweren die Heftmaschine darauf.

Anson sammelte seine Aufzeichnungen ein. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme? Es gibt noch mehr zu besprechen.« »Hm.« Brade zögerte. Er wusste nicht, wie er die so behutsam vorgetragene Bitte ablehnen sollte. »Es dürfte für Sie langweilig werden.«

Anson lächelte traurig. »In meinem Alter sind die meisten Dinge langweilig.« Er griff nach seinem Spazierstock.

Es war ein milder, sonniger, für die Jahreszeit sehr warmer Tag, fast ein Sommertag, aber ohne das sommerliche Besuchergedränge, und Brade dachte mit einer gewissen verbissenen Befriedigung daran, dass wenigstens in diesem Zusammentreffen etwas Positives zu erblicken war. Ginny inspizierte das Affenhaus, während er und Anson draußen auf einer Bank saßen.