»Du bist wieder mal der große Philosoph«, erwiderte Doris trocken. »Aber du brauchst ja auch nicht notfalls nachts bei ihr am Bett zu sitzen. Jetzt rasier dich und sieh zu, dass deine braunen Schuhe mit den Plastiksohlen den richtigen Glanz bekommen. Ich habe dir deinen Anzug und dein Hemd schon herausgelegt, und um halb sechs fährst du los und holst Nadine, damit am Abend jemand bei Virginia ist. Hast du auch bestimmt etwas gegessen? Du siehst so käsig aus. Was war denn?« »Ich fürchte, ich habe Cap beleidigt.«
»Das ist aber auch schlimm«, sagte Doris, die Nase rümpfend. »Das ist es vielleicht wert, dass man sich den ganzen Tag verdirbt. Was war denn los?«
»Oh, er hat mir Ratschläge gegeben, was meine weiteren Forschungen betrifft«, antwortete Brade, den Zusammenhang vorsichtig formulierend, »und ich war nicht ganz seiner Meinung.«
»Nun, du bist nicht mehr sein Doktorand. Es wird Zeit, dass er das merkt.«
>Ja, da hast du recht.«
Doris setzte sich. Sie war im Unterkleid und hatte das Haar in Lockenwicklern eingerollt. Sie zündete sich eine Zigarette an und fragte dann: »Ist das alles?« »Wie meinst du das?« »Ist sonst nichts passiert?«
Brade zögerte nur einen Augenblick und sagte dann in entschiedenem Ton: »Sonst ist nichts passiert, und ich habe etwas gegen ein Kreuzverhör.«
»Du scheinst dir nicht viel aus der Gesellschaft heute abend zu machen.«
»Das habe ich noch nie getan, Doris, das weißt du doch. So ein Abend ist eine langweilige Notwendigkeit und nicht mehr.«
»Warum machst du nicht aus der Notwendigkeit eine Tugend und sprichst mit Littleby?«
»Worüber?«
»Worüber schon! Über deine Beförderung.«
Brade fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Doris, das geht nicht.
Erstens kann man auf so einer Gesellschaft nicht über administrative Dinge sprechen, und zweitens kann man über so etwas nicht sprechen.«
»Du meinst, du kannst darüber nicht sprechen.«
»Außerdem ist jetzt nicht der richtige Augenblick«, fügte Brade hinzu, »wo Ralph gerade ums Leben gekommen ist -«
Es klang wenig überzeugend.
»Gibt es da noch etwas, wovon du mir nichts erzählt hast?« fragte Doris.
Brade war verblüfft. »Nein, nichts.« »Bist du sicher?«
»Ja.«
Als ob das damit gar nichts zu tun hätte, sagte Doris: »Foster hat angerufen.«
»Foster?«
»Professor Merrill Foster, der die Vorlesung für die älteren Semester hält, die du halten solltest. Genügt das zur Identifizierung?«
»Schon gut, Doris, bitte. Ich bin nicht in der Stimmung für eine sarkastische Unterhaltung. Foster hat angerufen. Gut. Was wollte er denn?«
»Er wollte mit dir sprechen.« »Worüber denn?«
»Das hat er nicht gesagt. Er hätte offenbar lieber gleich mit dir gesprochen und wollte sich dann vergewissern, dass du heute abend bei Littleby erscheinst. Ich sagte, du würdest kommen.« . »Hm - was glaubst du, was er wollte?«
»Ich weiß es nicht, aber es hat sich recht aufgekratzt angehört. Seine Stimme hatte so diesen leicht erregten Klang. Aber wie ich Foster kenne, hat er schlechte Nachrichten für dich parat.«
12
Schlechte Nachrichten? Gab es dieser Tage überhaupt etwas anderes? Handelte es sich vielleicht um dieselben schlechten Nachrichten, die ihm Cap Anson schon gebracht hatte, nur bestätigt jetzt, auf Hochglanz poliert und zum Überreichen hübsch verpackt und verschnürt? Aber Brade ließ sich nichts anmerken. »Nun sieh nicht überall Katastrophen, Doris. Foster hat wahrscheinlich nur wieder eine anrüchige Geschichte gehört, die er loswerden will. Und jetzt habe ich gerade noch Zeit für ein Nickerchen.«
Er zog Hemd, Hose und Schuhe aus und legte sich hin, aber statt zu schlafen, steigerte er sich in eine zornige Stimmung hinein. Dass Littleby die Angelegenheit mit Cap Anson besprach, konnte er noch verstehen. Aber mit Foster darüber zu reden...
Er starrte zur Decke empor, als liefe dort der Film seiner Erinnerungen ab. Da war der Tag, an dem er Foster zum erstenmal gesehen hatte. Foster war damals noch ein ganz junger Mann Ende Zwanzig gewesen, der gerade von einer Universität im Mittleren Westen kam. Er war durch die Laboratorien geführt und den Fakultätsmitgliedern vorgestellt worden, und von Anfang an erweckte er den Eindruck von Größe, obwohl er körperlich gar nicht groß war. Er trug eine Art joviale Selbstsicherheit zur Schau und wusste genau, mit welchem Forschungsgebiet sich jeder einzelne beschäftigte, und konnte sich darüber unterhalten, ohne zu erkennen zu geben, dass er sich vorher eingehend informiert hatte, obwohl er genau das getan haben musste. Foster tat so, als gehöre ihm der jeweilige Boden, auf dem er gerade stand. Dieses Gebaren missfiel Brade, der unablässig gegen dieses Gefühl der Abneigung ankämpfte, auch nach Fosters relativ schnellem Aufstieg in eine Position, die der seinen innerhalb der Fakultät entsprach.
Doris hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. »Er ist ungehobelt«, sagte sie, »und ich glaube, mit ihm ist nicht zu spaßen.« Ungehobelt war er tatsächlich. Er genoss seine zahlreichen schlüpfrigen Geschichten, die er allerdings, das musste man ihm lassen, auch sehr wirkungsvoll zu erzählen wusste. Er trug ständig ein spöttisch kokettes Wesen zur Schau. Beim Anblick von Sekretärinnen, Technikerinnen und Studentinnen verdrehte er gleichermaßen die Augen, und er hatte so eine Art, Frauen, die neben ihm standen, ganz beiläufig den Arm um die Schultern oder um die Taille zu legen.
Die Geste schien harmlos zu sein - zumindest hatte, soviel Brade wusste, noch nie eine Frau aufgeschrien, ihm auf die Finger geklopft oder sich bei Littleby beschwert. Und darüber wunderte sich Brade bisweilen. Besaß Foster einen animalischen Magnetismus, der nur auf Frauen wirkte?
Mit einem gewissen inneren Schmunzeln hatte er daher erfahren, dass Merrill Foster einen zweiten Vornamen hatte, unter dem er bei allen weiblichen Wesen im Institut bekannt war- »Handies« Foster. Warum musste Littleby die Angelegenheit mit ihm besprechen? Wenn man ihn, Brade, nicht mehr haben wollte, so hatte er doch zumindest verdient, dass man die Formen wahrte.
Er schloss die Augen. Wenn es tatsächlich dazu kam, wenn man ihm auf eine solche beschämende Weise kündigte, dann würde er schon auf seine Art zurückzuschlagen wissen. Es erschien ihm in diesem Augenblick ein leichtes, sich die nötigen Kenntnisse anzueignen, um Ralphs Experimente zum Abschluss zu bringen, sich eine andere Stelle zu suchen, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen und die Chemie von seiner neuen Wirkungsstätte aus zu revolutionieren. Sollten sie dort an seinem Ruhm Anteil haben.
Er trieb auf der Grenzlinie zwischen Wachen und Schlafen, und Rachepläne verzerrten sich ins Phantastische, als Doris' Stimme alldem ein Ende machte: »Ich glaube, es ist Zeit, dass du dich anziehst.« Littleby wohnte in einem der älteren Vororte, die noch etwas auf sich hielten - hier achtete man darauf, dass keine Siedlungshäuser die vornehm-gepflegte Atmosphäre störten und die Grundsteuer in die Höhe trieben.
Littleby hatte sich vor jetzt etwa zehn Jahren in dieses gediegene Milieu eingekauft und war Besitzer eines Hauses geworden, das auf eine angenehme, wohnliche Weise alt war. Holztäfelung, breite Treppen und hohe Räume sprachen von einer Zeit, als Hauspersonal billig zu haben war und unnötige Arbeit das wahre Zeichen des Reichtums darstellte. Wo das Beharren auf den Gepflogenheiten früherer Tage unangebracht gewesen wäre, hatte man die moderne Technik zu Hilfe genommen -Küche und Badezimmer blitzten von Chromstahl und bunten Plättchen, und das geräumige Kellergeschoss hatte sich die Invasion von Waschmaschine, Trockenschleuder und anderem Zubehör der heutigen Reinlichkeit gefallen lassen müssen.