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»Warum stellen Sie sich so, als hätte die Sache irgend etwas mit mir zu tun?« fragte Brade. »Selbst wenn es Selbstmord gewesen wäre -« Da stand plötzlich Ranke zwischen ihnen. »Was höre ich da von Selbstmord?«

Brade sah ihn scharf an. Foster zuckte die Achseln, als wollte er sagen, er habe seine Pflicht erfüllt und wenn Brade ihm das auch noch übelnehme, dann müsse er eben die Folgen tragen. Foster sagte: »Wir sprachen gerade von Ralph Neufeld.« »Selbstmord?« Rankes Lippen verzogen sich zu einem Harpyienlächeln, und sein deutender Finger machte erst zwei Zentimeter vor dem zweiten Knopf an Brades Hemd halt. »Wissen Sie, das glaube ich auch. Der Junge war verrückt. Total verrückt. Wir können froh sein, dass er darauf verzichtet hat, sich samt dem Chemischen Institut und uns dazu in die Luft zu jagen.« Brade war, als hätte er Fieber. Der eine stand links, der andere rechts von ihm. Beide glaubten an Selbstmord. Warum? Brade sagte: »Warum Selbstmord? Warum fällt es Ihnen so leicht, an Selbstmord zu glauben? In spätestens einem halben Jahr hätte er seinen Doktortitel gehabt.« Ranke war noch immer die Harpyie. »Sind Sie dessen so sicher? Wie kam er denn mit seiner Arbeit voran?«

»Sehr gut«, gab Brade kurz angebunden zurück. »Wie wollen Sie das wissen?«

Brade war im Begriff zu antworten; er sah die Falle, die Ranke ihm gestellt hatte. Er konnte ihr nicht aus dem Weg gehen; sein Schweigen bedeutete nur, dass Ranke sich die Mühe machen musste, ihn hineinzustoßen.

»Ich nehme an, er hat Ihnen gesagt, er kommt gut voran«, fuhr Ranke fort.

»Das hat er allerdings«, erwiderte Brade, der Falle trotzend. »Wie wollen Sie wissen, dass er Ihnen die Wahrheit gesagt hat?« »Ich besitze die Duplikate seiner Aufzeichnungen.«

Ranke lächelte noch breiter, und auch Foster lächelte. Brade wurde sich einer plötzlichen Stille im Raum bewusst; die einzelnen Grüppchen hielten in ihren Gesprächen inne und blickten zu ihm hin; Doris zerknüllte ein Taschentuch in der Hand und biss sich auf die Unterlippe. Brade wusste, dass er keinen Chemiker hier im Salon davon überzeugen konnte, dass er genug von Kinetik verstand, um beurteilen zu können, ob Ralph mit seiner Arbeit gut vorangekommen war oder nicht.

Rankes Stimme war honigsüß, honigsanft: »Ich weiß, von welchen Theorien Ralph Neufeld ausging, und ich sage Ihnen, sie waren unsinnig. Ich war bereit, ihn das selbst herausfinden zu lassen auf die' minimale Chance hin, dass er dabei auf eine sekundäre Spur stieß, die doch noch zu etwas geführt hätte. Aber das hat natürlich nicht funktioniert. Es war unmöglich, mit ihm auszukommen. Da ist er zu Ihnen gegangen, und das war sein Verderben. Ein Student, der sich mit einem solchen Thema abgibt, ohne einen Fachmann auf dem Gebiet zu Rate zu ziehen, der fordert die Katastrophe selbst heraus.« Das musste Ranke am meisten geärgert haben. Ralph hatte den großen Mann nie zu Rate gezogen. Brade sagte: »Sie brauchen den Jungen nicht nachträglich zu verdammen, nur weil er sich von Ihnen nicht hat helfen lassen.«

Ranke reckte das Kinn in die Höhe. »Ob er zu mir kam oder nicht, das war mir gleich. Was zum Teufel hätte mich das kümmern sollen? Ich bin nur zufällig der Auffassung, dass er in eine Sackgasse geraten war. Und ich will Ihnen etwas sagen, Lou: Er war schließlich gezwungen, diese Tatsache zu erkennen. Er hatte sich wieder und wieder mit dem Problem herumgeschlagen, hatte seine Messdaten interpretiert und noch einmal interpretiert, bis er schließlich keinen Ausweg mehr sah. Er konnte Ihnen nur vorläufig noch sagen, dass er gut vorankam, und dann ging es nicht mehr weiter. Und das hieß: keine Promotion. Also hat er sich umgebracht. Warum nicht?«

»Weil seine Arbeit doch gute Fortschritte machte«, entgegnete Brade in kaltem Zorn. »Ich mag ja in der physikalischen Chemie keine Kapazität sein, aber ein Spengler bin ich auch nicht gerade. Im Notfall kann ich auch noch eine Waldensche Inversion von einer fotochemischen Kettenreaktion unterscheiden. Ich habe seine Berichte gelesen, und er machte gute Fortschritte.« Irgendwie sah er den Raum nicht so, wie er wirklich war. Vor seinen Augen hing ein Schleier, der alles verschwimmen ließ. Alle Männer und Frauen um ihn her schienen ihn anzustarren - mit Ranke und Foster in der vordersten Reihe. Und hinter ihm schien ein Abgrund zu gähnen.

Wölfe! Er kämpfte gegen die Wölfe. Die Ereignisse der vergangenen achtundvierzig Stunden rückten in einen seltsam leuchtenden Brennpunkt. Eine gewalttätige Stimmung war in die akademische Abgeschiedenheit eingedrungen und hatte alle in Panik versetzt. Jetzt versuchten sie die zürnenden Götter zu besänftigen. Sie hatten beschlossen, für ihre Sünden zu büßen und eine Bestrafung abzuwenden, indem sie Brade opferten.

Wenn es ein Unglücksfall war, würde Brade daran schuld sein. Wenn sie gezwungen wurden, von einem Selbstmord auszugehen, würden sie deutlich herausstellen, dass Brade daran schuld war, weil er seine Studenten nicht in der gehörigen Weise angeleitet hatte. Und sollte es Mord gewesen sein, so würde es nur einen einzigen Tatverdächtigen geben. Es war zweckdienlich, dass einer für das Institut starb. Wenn sie aber glaubten, er werde mit stoischem Gesichtsausdruck für den Dolchstoss die Brust entblößen, hatten sie sich geirrt. »Sie scheinen sehr davon überzeugt zu sein, dass Ralph sich das Leben genommen hat, Professor Ranke«, sagte er. »Ich frage mich, ob Sie nicht vielleicht ein inneres Schuldgefühl treibt.« »Ein inneres Schuldgefühl?« erwiderte Ranke hochmütig. »Ja. Sie haben ihn aus Ihrer Gruppe verstoßen. Sie haben ihn gezwungen, sich einen Doktorvater zu suchen, den Sie für inkompetent halten. Sie hatten ihm ganz klar zu verstehen gegeben, dass Sie seine Theorie für falsch hielten, noch ehe er mit den Experimenten begonnen hatte.« Brade merkte, dass sein Gegenüber zu einer Erwiderung ansetzte; er sprach lauter, ohne sich darum zu kümmern, dass alle Anwesenden zuhörten. »Und daraus, dass Sie ihn nicht leiden konnten, haben Sie auch keinen Hehl gemacht. Vielleicht hatte Ralph das Gefühl, dass Sie bei der mündlichen Prüfung ihn und seine Arbeit in Stücke reißen würden - ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Wert, den sie haben mochte. Vielleicht konnte er in einem Augenblick der Verzweiflung den Gedanken, einem lachsüchtigen kleinen Tyrannen, der an verletzter Eitelkeit litt, gegenüberstehen zu müssen, einfach nicht mehr ertragen.«

Ranke, der weiß geworden war, krächzte etwas Unverständliches. Foster sagte: »Ich glaube, wir sollten das der Polizei überlassen.« Aber Brade war noch nicht fertig. Er wandte sich sofort Foster zu. »Vielleicht war es auch Ihr C in synthetischer organischer Chemie, das ihn fertiggemacht hat.«

»Was reden Sie da?« sagte Foster, dem plötzlich nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein schien. »Ich musste ihm die Note geben, die er verdient hatte.«

»Hatte er die Note C verdient? Ich habe seine Prüfungsarbeit gesehen, und die war mehr als ein C wert. Und ich bin organischer Chemiker, das werden Sie zugeben, und ich bin in der Lage, eine Prüfungsarbeit in einem organischen Übungskurs zu beurteilen.«

Foster brauste auf. »Die Note bezieht sich ja nicht nur auf das Schriftliche. Da war die Arbeit im Labor, sein Benehmen in der Vorlesung -«

Brade unterbrach ihn barsch. »Es ist ein Jammer, dass niemand Ihr Benehmen in der Vorlesung beurteilt oder sich fragt, was für eine Befriedigung es Ihnen wohl bereiten kann, auf Studenten herumzuhacken, die sich nicht wehren können. Vielleicht lauert Ihnen mal einer von ihnen bei Nacht und Nebel auf, um eine längst fällige Rechnung zu begleichen.«

Mrs. Littleby kam aufgeregt näher und verkündete mit verzweifelt sanfter Stimme: »Ach, bitte - ach, bitte, es ist angerichtet, gehen wir alle hinüber, ja?«

Ranke und Foster entfernten sich. Brade schritt wie in der Mitte eines kleinen Vakuums durch die Tür zum großen Salon. Und dann war Doris an seiner Seite. »Was ist denn passiert?« fragte sie mit gepresster, gehauchter Stimme. »Wie hat das alles angefangen?«