Ein Professor konnte sich sinnlos betrinken, mochte Vorlesungen halten, die niemand begriff, mochte sich nur einmal im Jahr waschen, unerträglich grob sein und allen auf die Nerven gehen. War er in fester, sozusagen beamteter Position, schadete das seiner Stellung nicht im geringsten.
Doch zwei Vergehen durfte er sich nicht zuschulden kommen lassen. Das eine hieß Untreue (ein relativ neues Vergehen), und das andere, sittliche Verfehlung, war so alt wie Abälard. Und in der Nähe dieses letzteren Vergehens bewegte sich Foster ständig. Wurde tatsächlich eine Klage vorgebracht, konnte ihn das seine Stellung kosten. War die Furcht vor einer Beschwerde ein Mordmotiv? War Mord ein Mittel, den möglichen Kläger aus der Welt zu schaffen? Oder erklärte sich dadurch nur die Note C?
Ja, Foster hätte ein Motiv gehabt; aber wie stand es mit der Möglichkeit zur Ausführung der Tat? Foster wusste nichts von der Art, in der Ralph seine Experimente durchführte. Wie konnte er geahnt haben, dass Erlenmeyerkolben mit Natriumacetat in Ralphs Labor auf ihn warteten? Brade zuckte die Achseln und wandte sich Ralphs Notizbüchern zu. Es waren fünf, und Ralph hatte sie gewissenhaft numeriert. Brade schlug eins auf.
Er hatte die Duplikate in seinem Arbeitszimmer, aber wenn Ralph sich nicht radikal von allen anderen Doktoranden unterschieden hatte, die Brade kannte, dann standen auf den Rückseiten der weißen Originalbogen noch zusätzliche Notizen und Kommentare. Er blätterte in dem Buch und konnte feststellen, dass Ralph der ideale Notizbuchführer gewesen war. Er drückte sich klar, knapp und fast pedantisch genau aus. Brade hatte die Notizbücher gesehen, in denen Cap Anson seinerzeit den Fortgang seiner Dissertationsexperimente vermerkt hatte, aber Ralph übertraf den alten Cap noch an Gründlichkeit.
Diesen Aufzeichnungen musste er, Brade, folgen können. Ralph erklärte seine Arbeit so genau, als setzte er bei dem, der sie lesen würde, nicht mehr als elementare Kenntnisse voraus.
Er griff zu dem Notizbuch Nummer eins. Die ersten Seiten bezogen sich auf die Zeit, als Ralph Neufeld bei Ranke gewesen war, und brachten eine Aufzählung der Werke, die er vor Beginn seiner Experimente gelesen hatte, eine Zusammenfassung ihres Inhalts sowie seine eigenen Kommentare und Theorien dazu. Das war alles sehr sauber und übersichtlich angelegt. Brade erinnerte sich, dass er diese Aufzeichnungen gesehen hatte-vor anderthalb Jahren, ehe er Ralph als Doktorand übernommen hatte.
Es überraschte Brade jetzt, dass sich hier Ralphs Labilität oder wie man es nennen wollte, überhaupt nicht zeigte. Hier war er ganz objektiv. Brade fand Bemerkungen wie: »Professor Ranke weist auf eine Unstimmigkeit im Konzept hin, die -«, oder: »Professor Ranke scheint nicht davon überzeugt zu sein, dass -« Die Kommentare hatten nie einen leidenschaftlichen Ton. Sie klangen kühl und sachlich. Sogar über das Ende der Zeit bei Ranke war lediglich zu lesen: »Heute war mein letzter Tag als Doktorand von Professor O. Ranke.« Nichts von Auseinandersetzungen mit anderen Studenten; kein Wort der Selbstrechtfertigung oder des Grolls. Auf der Seite stand nur dieser eine Satz.
Das nächste Datum lag einen Monat später, und die neue Seite begann mit der Feststellung: »Heute war mein erster Tag als Doktorand von Professor L. Brade.«
Die nun folgenden Seiten waren ihm vertraut. Anfangs hatte Ralph ihm die Duplikate wöchentlich übergeben und Seite für Seite erklärt. Später hatte er sie immer unregelmäßiger gebracht und immer flüchtiger und dann überhaupt nicht mehr erklärt. Hatte Ralph sich gesagt, dass er, Brade, ja doch nicht richtig mitkam? Hatte er deshalb Brade gehasst? (Aber Charlie Emmett glaubte, dass es Angst gewesen war, nicht Hass.) Brade biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob er etwas zu Mittag essen sollte. Nein. Die Sandwich-Bude im Institut war sonntags geschlossen; er hatte sich auch nichts mitgebracht; das nächste Restaurant war zehn Minuten Fußmarsch entfernt. Er beschloss, auf das Mittagessen zu verzichten. Er wandte sich wieder den Notizbüchern zu.
Ralph war bei der Beschreibung seiner einzelnen Experimente besonders gründlich gewesen. Er hatte jedes Mal die Durchführung des Experiments begründet und dann seine Interpretation angefügt. Wo das Ergebnis von den Erwartungen abwich, hatte er seine Theorien und Spekulationen darüber angefügt, was danebengegangen war. Alle diese Angaben waren äußerst nützlich, und Brade begann Mut zu fassen. Die mathematischen Berechnungen waren zwar schwierig, aber wenigstens waren keine Zwischenstufen ausgelassen. Wenn Ralph als Chemiker einen Fehler hatte, so den, dass er seinen Theorien zu sehr verhaftet war. Ein Experiment, das seine Theorien zu stützen schien, wurde kritiklos registriert, wogegen Experimente, die ihnen zuwiderliefen, mehrfach nachgeprüft und bisweilen »forterklärt« wurden.
In den ersten beiden Notizbüchern waren recht viele Experimente vermerkt, die nicht mit seinen Theorien übereinstimmten, und in den Kommentaren machte sich eine gewisse Verdrossenheit bemerkbar. Da hieß es etwa: »Muss die Temperatur besser kontrollieren. Mit Brade sprechen wegen anständigem Thermostat, wenn Arbeit überhaupt zu etwas führen soll.«
Es war das Fehlen des sonst immer gebrauchten »Professor«, das am deutlichsten auf Ralphs Gereiztheit hinzuweisen schien.
Auch auf Hass? Aber er hatte sich doch unter viel ungünstigeren Bedingungen beherrscht, als er noch bei Ranke gewesen war. Oder hatte Ranke, auch wenn er nichts von Ralphs Theorien hielt, einen festen Halt dargestellt, eine Stütze, wogegen Brade - nichts war?
Etwa zu diesem Zeitpunkt hatte Ralph die Duplikate unregelmäßig und in größeren Stößen abgeliefert, so dass Brade sich nur noch verschwommen an die einzelnen Seiten erinnern konnte.
Mit dem dritten Notizbuch begann sich plötzlich eine positive Entwicklung abzuzeichnen. Zum einen war Ralph in eine Richtung vorgestoßen, die sich später als sehr interessant erwies, und zum andern...
Brade hielt den Atem an, als er eine Seite umblätterte. Ralph beschrieb hier seine Versuchsanordnung bis ins Detail und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass er immer für einen Vorrat von zehn Kolben mit Natriumacetat sorgte. Brade empfand ein ganz merkwürdiges, fast unheimliches Gefühl bei dem Gedanken, dass jeder halbwegs erfahrene Chemiker, der zufällig diese Seite las, genau wusste, wie Ralph auf eben die Art vergiftet werden konnte, auf die er tatsächlich vergiftet worden war.
Aber er bot allen Spekulationen Einhalt. Zum Teufel mit Mord und Mördern. Im Augenblick musste er sich darüber klar werden, ob er in der Lage war, die angefangene Arbeit fortzuführen.
Die Experimente machten gute Fortschritte. Die Diagramme zeigten Punkte auf, die sich entlang einer geraden Linie bewegten. Brade war erleichtert. Dass er sich am Abend zuvor für Ralphs Arbeit stark gemacht hatte, war zum größten Teil Bluff gewesen, aber hier waren die Zeichnungen, die Gleichungen, alles von A bis Z. Jeder konnte sie nachprüfen und feststellen, dass Ralphs Arbeit gute Fortschritte gemacht hatte, dass seine Theorien stimmten. Sogar Ranke konnte das.
Brade nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich die zusätzlichen Notizen und Unrein-Berechnungen auf den Rückseiten anzusehen. Sie waren ausradiert worden.
Brade runzelte die Stirn. Theoretisch sollte in den Notizbüchern nichts radiert sein. Irrtümer, falsche Zahlen und dergleichen durften nur leicht durchgestrichen werden, so dass sie nicht zu irrigen Auslegungen führen konnten, aber noch lesbar waren. (Selbst Fehler erweisen sich manchmal als nützlich.)
Natürlich war das Radieren auf der Rückseite eines Blattes eine verzeihliche Sünde, da die Rückseiten ja nicht eigentlich Teil des Notizbuchs waren. Brade prüfte die Zahlen genau und legte seine Stirn noch mehr in Falten. Er dachte nach, blätterte ein paar Seiten weiter und stieß wieder auf radierte Stellen.
Dann saß er lange auf dem Stuhl, ohne die Bücher anzusehen, indes die Nachmittagsstunden dahinkrochen.
Es konnte nicht sein. Ihm war ein solcher Fall noch nie begegnet. Und doch - es schien keinen Zweifel zu geben.