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Doris verschwand in der Küche, um Eis und Soda zu holen; sie kam gleich darauf mit einem Drink in jeder Hand zurück. Sie setzte sich auf ein Sitzkissen dicht neben seinem Sessel und sah ihn mit ihren weit auseinanderstehenden braunen Augen an.

»Wie ist es denn eigentlich passiert?« fragte sie. »Ich weiß bis jetzt nur, dass es ein Unfall war.« Brade trank mit einem Zug das halbe Glas aus. Er musste husten, fühlte sich aber schon bedeutend wohler. »Offenbar hat er Natriumzyanid mit Natriumacetat verwechselt.« Er machte sich nicht die Mühe, es ihr näher zu erklären. Sie hatte schließlich lange genug mit ihm zusammengelebt, um einige chemische Fachausdrucke zu kennen.

»Oh!« sagte sie. Dann fuhr sie fort, und ihr Kinn hob sich dabei deutlich und scharf im Lampenlicht ab: »Das ist natürlich sehr traurig, Lou, aber dich trifft doch wohl nicht die geringste Schuld, oder?« Brade starrte in sein Glas. »Nein, natürlich nicht.« Dann fragte er: »Was hat denn Cap Anson gesagt? Ich nehme an, er war ärgerlich.« Doris machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe ihn überhaupt nicht gesehen. Er hat draußen mit Ginny gesprochen.« »Zu wütend, um hereinzukommen. Hm.«

Doris sagte: »Jetzt lass mal Cap aus dem Spiel. Was hat Professor Littleby dazu gesagt?«

»Gar nichts, Schatz. Er war nicht da.«

»Na ja, das wird nicht so bleiben. Wir sehen ihn spätestens Samstag abend.«

Brade legte seine Stirn in Falten und sah an ihr vorbei. »Du meinst also, wir sollten hingehen?«

»Natürlich gehen wir hin. So wie jedes Jahr. Mein Gott, Lou, das ist zwar eine sehr traurige Sache, aber wir können doch deshalb keine Trauer tragen, oder?« Sie gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Dieser Junge hat doch allen nur Ungelegenheiten gebracht.« »Aber, Doris -«

»Das hat dir Otto Ranke ja gleich gesagt, als du Ralph angenommen hast.«

»Ich glaube nicht, dass Ranke so etwas vorausgesehen hat«, sagte Brade ruhig.

Ranke war derjenige gewesen, den sich Ralph Neufeld zuerst als Doktorvater ausgesucht hatte. Die Studenten wählten sich gewöhnlich unter den verschiedenen Mitgliedern der Fakultät den Professor, dessen Forschungsgebiet ihnen am interessantesten erschien. Oder der die meisten Stipendien zu vergeben hatte. Und Neufeld hatte Ranke gewählt.

Ranke aber war eine etwas unglückliche Wahl gewesen. Normalerweise hielt ein Professor zu seinem Studenten, wenn er ihn einmal angenommen hatte, selbst wenn er es hinterher bereute, sah er es doch als seine Pflicht an, ihn bis zur Promotion zu bringen, es sei denn, er versagte völlig.

Professor Otto Ranke fühlte sich an diese ungeschriebene Regel nicht gebunden. Wenn er einen Studenten nicht leiden konnte, jagte er ihn einfach davon.

Er war der Professor für physikalische Chemie; ein untersetzter, dicklicher Mann mit weißen Haarbüscheln um die Ohren herum und einer rosa Einöde dazwischen; er war reich an Ehren und Auszeichnungen. Außerdem war er aussichtsreicher Kandidat für einen späteren Nobelpreis.

Seine kurz angebundene und bissige Art, seine Schroffheit waren sprichwörtlich, aber Brade kam es oft so vor, als läge hinter seinem Hohn und seinen Wutanfällen immer eine gewisse Absicht. Es war natürlich einfach, das temperamentvolle Genie zu spielen, und diese Maske mochte sich besonders für diejenigen empfehlen, die insgeheim gewisse Zweifel an der eigenen Genialität hegten.

Jedenfalls hatte sich Neufeld, dessen mürrisches Wesen jedem ein

Ärgernis war, bereits nach einem Monat mit seinem mindestens ebenso schwierigen Professor entzweit. Sofort wandte er sich an Brade und sagte ihm, dass er zu ihm überwechseln wollte. Daraufhin hatte Brade bei Gelegenheit Ranke wegen des jungen Mannes angesprochen.

Ranke hatte ärgerlich geknurrt: »Dieser Junge ist einfach unmöglich. Es ist nicht mit ihm zu arbeiten. Überall gibt es Ärger mit ihm.«

Brade lächelte. »Mit Ihnen ist auch nicht gerade leicht arbeiten, Otto.«

»Das hat gar nichts mit mir zu tun«, sagte Ranke heftig. »Er hat sich sogar mit August Winfield geprügelt, richtig mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen.«

»Weshalb denn?«

»Wegen nichts und wieder nichts. Winfield hatte ein Becherglas benutzt, das Neufeld gerade erst gereinigt hatte. Ich habe noch nie Schwierigkeiten mit Winfield gehabt- er ist ein recht vielversprechender Junge. Und ich denke nicht daran, mir meine Arbeitsgruppe von einem Psychopathen durcheinanderbringen zu lassen. Wenn Sie ihn annehmen, Lou, wird er Ihnen nur Ärger machen.« Aber Brade hatte nicht auf ihn gehört. Zunächst hatte er Neufeld eine Zeitlang ein eigenes Labor zugewiesen, war ihm freundlich, aber zurückhaltend begegnet. Er hatte erst mal abgewartet. Er wusste sehr wohl, dass man über ihn redete, weil er diesen schwierigen Studenten übernommen hatte, vor dem sich die anderen Professoren drückten, und er war sogar ein wenig stolz darauf gewesen.

Zeitweise vergaß er tatsächlich fast, dass er sowieso nur die weniger guten bekam, weil er keine Stipendien zu vergeben hatte.

Trotzdem waren auch seine Studenten erstklassige Wissenschaftler geworden. So arbeitete Spencer James, Brades Musterbeispiel, heute für die Manning - Chemiewerke - und zwar in einer besseren Position als die meisten von Rankes ordentlichen, geschmeidigen Dressurpudeln. Nach einer langen Anlaufzeit hatte sich Neufeld gefangen und schien auf dem besten Weg zu sein, selbst ein Meisterschüler zu werden. In letzter Zeit hatte er verblüffende und erstaunliche Leistungen vollbracht, und wahrscheinlich wäre er schon in einem halben Jahr imstande gewesen, unter Brades Obhut eine beachtliche wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Aber der kurze Tagtraum, den Doris' Bemerkung ausgelöst hatte, zerrann in Sekundenschnelle. Es würde keine Dissertation geben.

Den Gedanken laut weiterspinnend, sagte Brade: »Eigentlich hätte ich allen Grund, Trauer zu tragen. Ralph Neufeld war ein mathematisches Genie - er war weit besser als ich. Wir hätten eine Arbeit für das Journal of Chemical Physics hinlegen können eine richtig schöne, hochmathematische Arbeit, dass Littleby der Kopf nur so geraucht hätte.«

»Lass sie doch von einem anderen schreiben«, sagte Doris prompt. »Ich könnte vielleicht den neuen Studenten, diesen Simpson dazu überreden, bei Ranke Kinetik zu belegen, aber ich bezweifle, dass er das schafft. Ganz abgesehen davon kann Simpson mit den letzten Strichen an einer fremden Arbeit keinen Doktor machen, und ich bin dafür verantwortlich, dass er ihn macht.« »Du bist aber auch für dich selbst verantwortlich, Lou. Und für deine Familie - vergiss das nicht.« Brade schwenkte den Rest der Flüssigkeit auf dem Boden seines Glases herum. Wie sollte er es ihr nur beibringen? Das scharrende Geräusch nackter Füße auf dem Teppich im oberen Stock lenkte ihn ab. Eine helle Mädchenstimme rief: »Pa! Bist du da? Papi?«

Doris ging entschlossen an die Treppe und rief etwas ärgerlich hinauf: »Virginia -«

Aber Brade schaltete sich ein. »Ich möchte mit ihr sprechen.« Doris antwortete: »Cap Anson hat ihr ein paar Kapitel für dich zum Lesen gegeben. Das ist alles, was sie dir sagen will.«

»Na ja, ich werde trotzdem mit ihr reden.« Er stieg die Treppe hinauf. »Was gibt's denn, Ginny?«

Er beugte sich hinab und nahm sie in die Arme. Sie würde bald zwölf Jahre alt werden.

Ginny sagte: »Ich dachte, ich hätte dich heimkommen hören, aber dann bist du nicht heraufgekommen, um mir gute Nacht zu sagen, und Mutter hat doch darauf bestanden, dass ich gleich nach dem Abendessen ins Bett ging. Da bin ich eben herausgekommen, um nachzusehen.«

»Ich bin froh, dass du das getan hast, Ginny.«