»Ich hab auch eine Nachricht für dich, Pa.« In wenigen Jahren würde sie so groß sein wie ihre Mutter, und schon jetzt hatte sie das gleiche dunkle Haar und die gleichen weit auseinanderstehenden braunen Augen. Aber ihre Haut war hell wie die ihres Vaters. Ginny sagte: »Cap Anson kam gerade, als ich draußen war -« »Punkt fünf Uhr.« (Brade konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er kannte die übertriebene Pünktlichkeit des alten Mannes und schämte sich bei dem Gedanken, dass er ihn versetzt hatte. Aber es war nicht seine Schuld gewesen; wirklich nicht.)
»Ja«, sagte Ginny, »er hat mir einen Umschlag gegeben und gesagt, ich soll ihn dir geben, wenn du heimkommst.« »Und er schien sehr ärgerlich zu sein, nicht?«
»Er hat so - ich weiß nicht, ganz steif gestanden. Und er hat auch nicht gelächelt oder so.«
»Hast du den Umschlag da?«
»Da ist er.« Sie rannte fort und kam gleich darauf mit einem dicken, großen Umschlag zurück. »Hier.«
»Ich danke dir, Ginny. Und jetzt gehst du besser wieder ins Bett. Und mach die Tür zu.«
»In Ordnung«, sagte Ginny und spielte an einem Bändchen herum, das ihr linkes Handgelenk zierte. »Habt ihr etwas zu besprechen, du und Mutti?«
»Wir möchten dich nicht stören, deshalb sollst du deine Tür zumachen.« Er richtete sich wieder auf und merkte, wie es leise in seinen Kniegelenken knackte. Mit Cap Ansons Manuskript unter dem Arm wollte er sich zurückziehen, aber Ginny starrte ihn mit aufmerksamen glänzenden Augen an. »Hast du Ärger an der Uni, Paps?« Brade wurde etwas verlegen. Hatte sie gelauscht? »Warum fragst du, Ginny?«
Sie war offensichtlich beunruhigt und aufgeregt. »Hat dich Professor Littleby hinausgeworfen?«
Brade hielt die Luft an. Dann sagte er scharf: »Das war wirklich eine dumme Frage. Und nun verschwindest du in deinem Zimmer! Niemand wirft deinen Vater hinaus. So, und jetzt ab mit dir!«
Ginny zog sich zurück. Ihre Tür ging zu, aber nicht ganz, und Brade ging schnell hin, um sie zuzuwerfen. »Und jetzt keinen Ton mehr, verstanden?«
Als er die Treppe wieder hinunterging, kochte er innerlich. Aber es hatte keinen Zweck, auf Ginny ärgerlich zu sein. Im Gegenteil - er hätte sie trösten und beruhigen müssen. Wenn sie die Unsicherheit ihrer Eltern gespürt hatte, wenn sie davon angesteckt worden war, dann hatten sie, die Eltern, die Schuld daran.
Das bestimmte ihn, Doris die Neuigkeiten nicht schonend beizubringen. Soll sie es doch erfahren, dachte er ärgerlich.
Er sah sie fest an und sagte: »Das Schlimme ist nur, Doris, dass Ralph Neufelds Tod kein Unfall war.«
Sie schien erschrocken. »Willst du damit sagen, dass er es absichtlich getan hat? Dass er sich das Leben genommen hat?« »Nein. Warum sollte er einen komplizierten Versuch vorbereiten, nur um sich das Leben zu nehmen? Nein - ein anderer hat ihn getötet. Er wurde ermordet.«
3
Doris Brade starrte ihren Mann an, dann lachte sie ärgerlich auf und sagte: »Du bist verrückt, Lou -« Sie brach mitten im Satz ab, und ihre Augen weiteten sich. »War denn die Polizei da? Hat sie das gesagt?« »Natürlich war die Polizei da. Es war ja kein natürlicher Tod. Aber gesagt haben sie es nicht. Sie glauben, es sei ein Unfall gewesen.« »Dann solltest du es doch lieber ihnen überlassen.« »Sie wissen noch nicht alles, Doris. Sie sind schließlich keine Chemiker.«
»Was hat das denn damit zu tun?«
Brade sah auf seine Fingerspitzen, dann beugte er sich zur Lampe hinüber und knipste das Licht aus: Sein Kopf begann zu schmerzen; das Licht störte ihn. Jetzt fiel nur noch ein sanfter Lichtschein von der Küche herein - das war viel angenehmer.
Er sagte: »Das Natriumacetat und das Natriumzyanid hätten in gleichen Flaschen gewesen sein können, so dass Ralph nach der falschen gegriffen hätte, ohne es zu merken. Das wäre möglich. Trotzdem hätte es ihm nachher auffallen müssen.« »Wieso?«
»Wenn du es ausprobieren würdest, wüsstest du gleich, was ich meine. Für den Beamten waren beide Chemikalien einfach weiße Kristalle, und das genügte ihm. Aber das ist eben doch nicht alles - nur habe ich ihn nicht gerade aufgefordert, sie näher zu untersuchen, weiß Gott nicht. Sie sind sich nämlich durchaus nicht gleich. Natriumacetat zieht zum Beispiel die Luftfeuchtigkeit stärker an, so dass sich die Kristalle leicht zusammenklumpen.
Ein Chemiker, der gewöhnt ist, das Acetat mit dem Spatel herauszunehmen, hätte sogar mit verbundenen Augen sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte.«
Doris saß ihm gegenüber auf der Couch; starr und irgendwie drohend im Dämmerlicht, und ihre Hände bildeten einen hellen Fleck auf dem dunklen Kleid. Sie sagte: »Hast du mit jemandem darüber gesprochen?« »Nein.«
»Das hätte mich nämlich nicht gewundert. Du hast so deine sonderbaren Momente, und diesmal bist du mehr als sonderbar. Du musst verrückt sein.« »Wieso das denn?«
»Na hör mal- Littleby hat dir so gut wie versprochen, dass du dieses Jahr deine feste Anstellung bekommst. Das hast du selbst gesagt.« »Ganz so habe ich das nicht gesagt, Doris. Er meinte nur, eine Wartezeit von elf Jahren sei lang genug. Wie ich den Laden kenne, kann das genauso gut geheißen haben, dass er meine Entlassung betreiben will-oder mich hinauswerfen, wie Ginny es nennt. Ich nehme an, du weißt, dass sie gedacht hat, ich sei hinausgeworfen worden.« Doris antwortete unbewegt: »Ich habe es gehört.« »Wie kommt sie denn überhaupt darauf?«
»Ich nehme an, weil sie uns über diese Angelegenheit sprechen gehört hat. Sie ist schließlich nicht taub, und sie ist auch alt genug, um zu verstehen, was sie hört.«
»Glaubst du, dass es richtig ist, ihr das Gefühl der Sicherheit zu nehmen?«
»Jedenfalls nicht schlimmer, als sie in dem Gefühl einer falschen Sicherheit zu wiegen. Aber du kommst vom Thema ab, Lou. Du musst zusehen, dass du eine feste Anstellung bekommst.« Brades Stimme bebte leicht, wurde aber nicht lauter, als er antwortete: »Es handelt sich um einen Mord, Doris.«
»Es handelt sich um deine Anstellung, Lou. Littleby bringt es fertig, den Umstand, dass einer deiner Studenten vergiftet wurde, als Ausrede zu benutzen, um deine Beförderung hinauszuzögern. Und wenn du nun auch noch herumläufst und von Mord redest und einen Skandal heraufbeschwörst, dann ist die Angelegenheit endgültig erledigt.« »Ich habe nicht die Absicht -«, begann Brade.
»Ich weiß, dass du vorhast, alles möglichst geheimzuhalten, aber dann fühlst du dich auf einmal verpflichtet, etwas ganz und gar Lächerliches zu tun - Pflicht gegenüber der Universität, gegenüber der Gesellschaft -, deine verdammte Pflicht gegenüber allen außer deiner Familie.« »Ich glaube, du hast dir das noch gar nicht richtig überlegt, Doris«, sagte Brade. Wenn ihm heute abend etwas zuwider war, dann war es eine Moralpredigt. »Wenn es in unserem Campus einen Mörder gibt, dann kann ich diesen Umstand nicht einfach ignorieren. Ein chemisches Labor ist so ziemlich der gefährlichste Ort, um einen Mörder frei herumlaufen zu lassen. Zyanid ist nur ein tödliches Gift - aber wenn es ihm in den Sinn kommt, zum zweitenmal zu töten, dann gibt es hundert, nein tausend andere Möglichkeiten. Man kann diese Gefahren unmöglich alle ausschalten - selbst wenn man gewarnt ist. Ist es auch meine Pflicht gegenüber meiner Familie, mich als mögliches Opfer zu exponieren?«
»Warum denn ausgerechnet du?«
»Warum nicht? Warum Ralph? Warum also nicht ich?«
»Ach, mach das Licht an!« Gleich darauf knipste sie es selbst mit einer ungeduldigen Handbewegung an. »Du kannst einen wirklich zur Verzweiflung bringen. Es war kein Mord. Dein idiotischer Student hat einfach Zyanid genommen, ohne den Irrtum zu bemerken. Das ist eine Tatsache, und Tatsachen kann man nicht durch Worte beseitigen. Er war zerstreut und hat es nicht gemerkt. Du hast leicht sagen, kein Chemiker würde Zyanid mit Acetat verwechseln, aber das setzt ja voraus, dass ein Chemiker ein Automat ist, eine Maschine. Du vergisst, dass er auch mal unaufmerksam sein kann, in Gedanken, müde, über etwas verärgert. Er kann unzählige Fehler machen; er kann sogar die unmöglichsten Fehler machen. Und das ist genau das, was Ralph getan hat.«