»Es gibt Beweise.« Brade sprach langsam und überlegt, damit sie ihn verstand. »Ralph war ein methodischer Mensch; er legte sich sein Material vorher zurecht, soweit das möglich war, damit er nicht ein Experiment unterbrechen musste, um etwas zu holen, was er nicht zur Hand hatte. Er war darin von peinlicher Sorgfalt. So hat er zum Beispiel in zehn Erlenmeyer-Kolben je eine Zweigramm-Portion Natriumacetat vorbereitet, und das reichte ihm für eine ganze Serie von Experimenten. Als der Mann von der Polizei weg war, sah ich in seinen Schubladenfächern nach und fand noch sieben Erlenmeyer Kolben. Ihr Inhalt sah aus wie Natriumacetat, aber ich habe ihn mit Silbernitratlösung getestet, auf das Aussehen kann man sich da gar nicht verlassen. Wenn Zyanid auch nur in winzigen Mengen vorhanden war, musste es einen weißen Niederschlag von Silberzyanid geben, sowie der erste Tropfen Nitratlösung darauffiel. Aber es bildete sich kein Niederschlag.
Dann fand ich den Kolben, den Ralph bei seinem letzten Experiment benutzt hatte. Er stand im Abzug gleich hinter seiner Versuchsanordnung. Er war nicht völlig entleert. Das brauchte er auch nicht zu sein, da es bei der hinzugefügten Acetatmenge nicht auf ein bestimmtes Verhältnis ankam. Jedenfalls hingen noch einige Kristalle im Kolben. Ich löste sie auf, fügte das Silbernitrat hinzu - und bekam meinen Niederschlag.
Das Pulver hätte natürlich gewöhnliches Kochsalz, Natriumchlorid oder auch ein verwandter Stoff sein können. Auch Silberchlorid zeigt sich als weißer Niederschlag, aber es löst sich nicht wieder von neuem auf, wenn man das Glas schüttelt. Silberzyanid löst sich aber in dem Fall auf, und dieser Niederschlag hier tat es. Es ist reiner Zufall, dass sich Doheny nicht kompetent fühlte.« »Doheny?« »Der Detektiv.« »Ach so. Ja, wenn du nichts dagegen hast, würdest du mir dann erklären, was diese ganze Geschichte von Erlenmeyer-Kolben und Silbernitrat zu bedeuten hat?«
»Liebling, das müsste dir aber doch jetzt klar sein. Ralph hat mit einer Serie von zehn Kolben angefangen, die er vorher alle gleichzeitig vorbereitet hatte. Zwei davon hat er benutzt; einen gestern, den anderen vorgestern. Dabei ist ihm nichts passiert. Der dritte war es, der ihn getötet hat. Die sieben, die ich noch vorfand, waren völlig harmlos. Wenn aber Ralph nun Natriumzyanid für Natriumacetat gehalten hätte -sagen wir mal, war er erregt, war mit den Nerven herunter, wusste nicht, was er tat -, dann hätte er in alle Kolben Zyanid gefüllt. Er kann nicht nur einen damit gefüllt haben und dann wie ein Schwachkopf zum Regal zurückgegangen sein und für die anderen Acetat genommen haben. Auch hätte er bestimmt nicht neun mit Acetat gefüllt - und den zehnten dann plötzlich aus Versehen mit Zyanid. Das ist ganz unmöglich.« Doris dachte stirnrunzelnd nach. »Er könnte mit Zyanid angefangen und dann seinen Irrtum bemerkt haben.«
»Dann hätte er diesen einen Kolben entleert und ausgespült.« »Vielleicht hat er in mehr als einen Zyanid getan, vielleicht in alle zehn - und hat dann beim Ausleeren den einen übersehen.« »Das würde zwei höchst unwahrscheinliche Irrtümer und Nachlässigkeiten voraussetzen. Er hätte zuerst Zyanid für Acetat gehalten und dann vergessen, einen mit Zyanid gefüllten Kolben zu leeren. Herrgott, mit Zyanid spielt man nicht so einfach herum; das tut auch ein Chemiker nicht, der das Zeug öfter benutzt. Ein Chemiker kann einfach nicht so zerstreut sein. Das gibt es einfach nicht. Und Ralph ist immer äußerst vorsichtig vorgegangen.«
Doris schwieg, und Brade hing eine Weile seinen trüben Gedanken nach. Es war beängstigend; besonders wenn man daran dachte, welche Konsequenzen eine anscheinend ganz harmlose Sache haben konnte. Und dennoch - das kam in der täglichen Routine des wissenschaftlichen Experiments immer wieder vor. Warum scheute er sich, das logische System, das er, ohne zu zögern, auf Formeln und Atome anwandte, im Falle von Menschen anzuwenden? Wegen der Art der Schlussfolgerung vielleicht? Brade fuhr fort: »Die Folgerung ist, dass jemand absichtlich das Acetat in einem der Kolben mit Zyanid vertauscht hat.« »Aber warum?« fragte Doris. »Um Ralph zu töten.« »Aber warum?« »Keine Ahnung. Ich weiß nichts über sein Privatleben; woher sollte ich also ein mögliches Motiv kennen? Ich habe über einundeinhalbes Jahr mit ihm zusammengearbeitet, und doch weiß ich so gut wie nichts über ihn.«
»Machst du dir auch noch deshalb Gewissensbisse? Was hat denn Cap Anson schon von dir gewusst, als du mit ihm zusammengearbeitet hast?«
Brade musste wider Willen lächeln. Solange er oder irgend jemand sonst sich erinnern konnte, wurde Professor Anson »Cap« genannt, ohne dass man gewusst hätte, warum.
In seinen Studenten sah er nur eine Art erweitertes Ich, zusätzliche Arme, Nebenhirne.
»Cap ist ein Sonderfall«, sagte Brade.
»Momentan wünschte ich, du wärst ihm etwas ähnlicher«, erwiderte Doris. »Du hast mir immer erzählt, seine stärkste Seite wäre seine Begabung, nie auch nur einen Schritt zu weit zu gehen. Du dagegen rennst den Tatsachen ja förmlich voraus. Deine ganze Theorie geht von der Annahme aus, dass Ralph alle zehn Kolben auf einmal mit dem Acetat gefüllt hat. Aber woher willst du das wissen? Selbst wenn er das sonst immer so gemacht hat - wie willst du wissen, dass es diesmal keine Ausnahme von der Regel war?
Natürlich kannst du sagen, er sei immer peinlich genau gewesen, Lou, sehr zuverlässig und so, und dass er immer alles so und nicht anders gemacht hat. Aber Menschen sind eben keine Maschinen. Selbst wenn er eine Reihe von Kolben in seinem Schrank stehen hatte, kann er aus einem uns unbekannten Grund beabsichtigt haben, noch einen weiteren Kolben zu füllen. Vielleicht hatte er einen umgestoßen oder zu Anfang einen zuwenig vorbereitet. Wenn er aber noch einen zusätzlichen Kolben nahm, nur einen einzigen, und ihn auch benutzte, dann kann er doch sehr wohl bei diesem einen das Acetat mit dem Zyanid verwechselt haben.«
Brade nickte müde. »Er kann, er könnte, er hat vielleicht. Alles ist möglich. Wenn wir uns aber die Mühe sparen, Möglichkeiten zu erfinden und uns an die größte Wahrscheinlichkeit halten, dann bleibt nur noch Mord übrig.«
Doris sprach leise und beherrscht: »Du wirst nichts dergleichen sagen, Lou. Es ist mir ganz gleich, ob es Mord war oder nicht. Ich will nicht, dass du einen Skandal heraufbeschwörst. Du wirst deine Anstellung nicht aufs Spiel setzen. Verstehst du mich?«
Plötzlich klingelte das Telefon. Doris saß dicht daneben und nahm den Hörer ab. Dann blickte sie zu ihm hoch und bedeckte die Muschel mit der Hand. »Professor Littleby.« Brade flüsterte erstaunt: »Was ist denn los?«
Sie schüttelte den Kopf und legte warnend den Finger an die Lippen. »Vorsicht!«
Brade nahm den Hörer. »Hallo, Professor Littleby?« Als er die Stimme hörte, sah er im Geist das Gesicht vor sich, deutlich und in allen Einzelheiten - die frische rötliche Farbe, noch rosiger wirkend durch das weiße Haar darüber, dieses breite, weiche Gesicht mit dem runden, fast knolligen Kinn und der ebenso runden und knolligen Nase, die porzellanblauen Augen. Der Direktor des Chemischen Instituts sagte: »Hallo, Brade. Eine schreckliche Geschichte. Ich habe gerade eben davon gehört.« »Ja, Sir, sehr trauriger Vorfall.«
»Ich weiß ja nicht viel über den Jungen. Aber ich glaube, ich kann mich erinnern, dass hier Bedenken wegen seiner Zulassung zur Doktorprüfung bestanden - doch das ist ja jetzt unwichtig. Allerdings spielt die Persönlichkeit eine recht große Rolle, und ich habe immer wieder festgestellt, dass charakterliche Mängel und Unfallhäufigkeit im Labor Hand in Hand gehen. Ein Psychiater hätte wahrscheinlich die phantastischsten Erklärungen dafür, aber mir genügt es, die Tatsachen zu konstatieren. Ach, könnten Sie übrigens morgen früh vor Beginn der Vorlesungen bei mir vorbeikommen?«
»Selbstverständlich, Sir. Darf ich fragen, worum es sich handelt?« »Ach, es ist nur wegen einiger Probleme im Zusammenhang mit dieser Geschichte. Sie fangen doch um neun an, ja?« »ja, Sir.«