»Dann kommen Sie am besten um halb neun zu mir. Und nehmen Sie's nicht zu schwer, Brade. Schreckliche Geschichte - schrecklich. Wirklich schrecklich...«, und damit legte er auf.
»Er will dich sehen?« fragte Doris. »Weshalb denn?«
»Damit wollte er nicht herausrücken.« Brade griff nach seinem Glas, das schon längst leer war. Er stellte es wieder weg. Er sagte: »Ich glaube, wir essen jetzt erst mal. Oder hast du schon?« »Nein«, erwiderte sie kurz.
Während sie den Salat aßen, herrschte Stille. Brade war dankbar dafür. Schließlich sagte Doris: »Ich möchte, dass du eins weißt, Lou -« »ja, Doris?«
»- ich werde nicht mehr länger warten. Du musst noch dieses Jahr deine Berufung bekommen. Wenn du das jetzt verpatzt, ist es endgültig aus. Ich habe wirklich lange gewartet, Lou, und Jahr für Jahr habe ich gebangt, wenn es Juni wurde, ob sie dir das Kärtchen geben würden, auf dem steht, dass sie dich für ein weiteres Jahr verpflichten. Einen solchen Juni wird es für mich nicht mehr geben.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, sie würden meinen Vertrag nicht erneuern?«
»Darüber möchte ich überhaupt nicht mehr nachdenken müssen. Ich will keine Eventualitäten mehr, ich will Gewissheit. Wenn du zum außerordentlichen Professor berufen wirst, dann geschieht die Verlängerung des Vertrages doch automatisch, nicht? Das bedeutet doch wohl die Berufung, dass das ganz automatisch geschieht, oder?« »Wenn kein besonderer Anlass vorliegt, ja.«
»Schön. Ich will, dass der Juni für mich seine Bedeutung verliert. Ich will, dass das )fiskalische Jahr< mir nichts mehr sagt. Ich will die Berufung.« »Dafür kann ich dir aber doch nicht garantieren, Doris«, sagte Brade sanft.
»Wenn du Littleby oder sonst jemandem gegenüber etwas von deinen komischen Ideen von wegen Mord und so verlauten lässt, kannst du mir ganz bestimmt das Gegenteil garantieren. Und wenn das geschieht, Lou - wenn das geschieht, dann -«, sie blinzelte heftig, so als wollte sie die Tränen zurückhalten, »oh, Lou, ich halte das nicht länger aus.« Brade wusste, wie ihr zumute war. Ihm ging es ja genauso. Die Jahre der Depression hatten ihnen beiden Mut und Zuversicht geraubt - Jahre, in denen sie mit ansehen mussten, wie ihre Eltern krank waren vor Sorge, in denen sie etwas erfuhren, ohne recht zu verstehen -Sie wollten die »Berufung«, um diese Erinnerung auszulöschen, aber was sollte er tun?
Langsam und sorgfältig trennte Brade ein Salatblatt mit der Gabel auseinander, halbierte es, halbierte die beiden Teile noch einmal. »Ich kann die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Wenn es ein Mord war, dann wird es die Polizei mit der Zeit auch herausfinden.« »Dann lass die doch. Solange du nur nichts damit zu tun hast.« Brade antwortete: »Wie sollte ich denn nichts damit zu tun haben?« Dann stand er auf. »Ich mache mir noch einen Drink.« »ja.«
Unbeholfen mixte er das Getränk und sagte dann: »Hast du darüber nachgedacht, wer der Mörder sein könnte, Doris?« »Nein. Will ich auch nicht.«
»Doch, tu's mal.« Er sah sie über sein Glas hinweg an, und es tat ihm leid, dass er ihr auch das noch sagen musste, aber er wusste nicht, wie er es hätte umgehen sollen. »Der Mörder muss jemand sein, der etwas von Chemie versteht. Jemand, der noch nie in einem Labor gearbeitet hat, würde es nicht wagen, in ein Experiment hineinzupfuschen, um das tödliche Zyanid einzuschmuggeln. Das würde er sich nicht zutrauen. Er würde zu einem weniger komplizierten Mittel greifen.« »Willst du jetzt auch noch sagen, dass du glaubst, der Mörder arbeite im Chemischen Institut?« »Es ist gar nicht anders denkbar. Jemand muss sich Zugang zum Labor verschafft und das Acetat in einem der Kolben mit Zyanid vertauscht haben. Während Ralph im Labor war, kann es ja wohl kaum passiert sein. Zum einen war Ralph ein außerordentlich argwöhnischer Mensch, der es niemandem gestattet hätte, sich seinen Geräten zu nähern; das war ja auch die Ursache für seine Differenzen mit Ranke. Der Tausch muss also in Ralphs Abwesenheit stattgefunden haben. Sobald Ralph aber das Labor verließ, schloss er ab - sogar wenn er nur hinunter in die Bibliothek ging, um etwas nachzuschlagen. Ich habe ihn das oft tun sehen. Der Mörder muss also einen Schlüssel gehabt haben.« »Oh, diese Schlussfolgerungen«, sagte Doris. »Dass du ihn mehrmals dabei beobachtet hast, bedeutet doch noch nicht, dass er das ausnahmslos getan hat. Vielleicht hat er es manchmal vergessen. Und selbst wenn er es nie vergaß - Schlüssel sind ja nicht das einzige Mittel, um. Türen zu öffnen.«
»Mag sein, wenn du die etwas weit hergeholten Möglichkeiten in Betracht ziehst. Aber fasse doch lieber die nächstliegende Erklärung ins Auge. Du musst so vorgehen wie die Polizei. Es müsste jemand sein, der einen Schlüssel hat; jemand, der die Art von Ralphs Experimenten kennt, der weiß, wo er sein Acetat aufbewahrt und seine Kolben und so weiter. Außerdem wurde auch nur einer der Kolben vertauscht.« »Warum?« fragte Doris, die jetzt endlich zu begreifen begann. »Weil der Mörder Ralphs übertrieben genaue Art kannte. Er muss sich darauf verlassen haben, dass Ralph die Kolben von links nach rechts herausnehmen und je ein Experiment pro Tag durchführen würde. Das würde also bedeuten, dass er an einem Donnerstag an das Gift kommen würde-an einem Tag also, an dem er allein war, weil sein Kollege in der Vorlesung saß. Und es würde kein Zyanid übrigbleiben und andere in Gefahr bringen. Der Mörder war also mit den Verhältnissen bestens vertraut.« »Worauf zielst du ab, Lou?«
»Nur darauf, dass die Polizei zu denselben Schlüssen kommen und den Mann finden wird, auf den das alles zutrifft.« »Auf wen, also?«
»Wen! Warum glaubst du denn wohl, bin ich so sehr darauf bedacht gewesen, der Polizei gegenüber nichts von alledem zu erwähnen?« Brade nippte an seinem Glas und leerte es dann plötzlich mit einem Ruck. Dann sagte er heiser: »Auf mich, mein Schatz. Auf mich. Ich bin derjenige, auf den dies alles zutrifft. Ich bin der einzig mögliche Verdächtige.«
4
Die Fahrt zur Universität am nächsten Morgen erschien ihm länger als die Heimfahrt am Abend vorher. Er hatte zum Abschluss des Abends ein drittes und dann noch ein viertes Glas getrunken, aber der Alkohol hatte ihn nicht in bessere Stimmung versetzt.
Doris hatte ein ominöses Schweigen bewahrt und bis zum Schluss vor dem Fernsehapparat gesessen. Brade hatte Cap Ansons Text aus dem Umschlag genommen und versucht, ihn dem alten Mann zuliebe zu überfliegen, aber die Buchstaben tanzten ihm wie verrückt vor den Augen, und nachdem er den einleitenden Absatz fünfmal gelesen hatte, gab er es auf. Sie schliefen danach beide nicht gut. Morgens war Ginny recht bedrückt mit einem angespannten, verstörten Zug auf dem schmalen Gesicht in die Schule gegangen. Kinder, das hatte Brade längst erkannt, besaßen unsichtbare Antennen, die die unvorhersehbaren Stimmungen und Launen der Erwachsenen auffingen.
Die Versuchsarbeiten für seine Dissertation bei Cap waren noch nicht ganz abgeschlossen gewesen, als ihm eine Assistentenstelle an der Universität angeboten wurde. Das war ein Geschenk des Himmels. In seinen kühnsten Träumen hatte er das nicht zu hoffen gewagt. Der Reiz - und die Unsicherheit - eines Daseins in der Industrie behagten ihm nicht. Er war kein Ellenbogenmensch, er machte nicht einmal beim Rennen um staatliche Forschungsmittel mit. Er wollte nur die ruhige, gesicherte Position. Sicherheit, nicht Abenteuer - das war seine Devise. Zu diesem Zeitpunkt heiratete er Doris. Sie wollte dasselbe; finanzielle Sicherheit für das nächste Jahr. Sie verzichteten auf den Raketenstart, um sicher zu sein, nicht früher oder später einen Absturz zu erleben. Ein Fakultätsposten an einer altehrwürdigen Universität war nicht schlecht. Da konnte eine Wirtschaftskrise kommen, die Gehälter mochten vorübergehend gekürzt werden - Mitglieder der Fakultät überlebten allemal bis in ihre alten Tage. Und selbst wenn man sich zurückzog, führte man als Professor emeritus ein angenehmes Leben bei halbem Gehalt. Die Zeit ging vorüber, zwei Jahre, und er war assistierender Professor. Seine Forschungsarbeit bezog sich auf ausgefallene Themen - interessant, aber nichts Aufregendes. Es ging dabei still zu, denn er wählte seine Themen schon dementsprechend aus. Die Forschungsmittel gingen freilich immer dorthin, wo »etwas los war«, und deshalb kam er dabei zu kurz. Das gleiche galt für die erhoffte Beförderung zum außerordentlichen Professor.