Выбрать главу

Er konnte Doris' Einstellung zu diesem Problem begreifen. Siebzehn Jahre versah er jetzt sein Amt, und jedes Jahr kam der weiße Zettel – nicht der rosa, sondern der weiße Zettel -, der die Verlängerung des Anstellungsverhältnisses bedeutete. Für ein Jahr. Doris strebte natürlich eine unkündbare Position an. Brade versuchte ihr zu erklären, dass »unkündbar« auch nur ein Wort war. Dass es hieß, dass man nicht vor die Tür gesetzt werden konnte, außer wenn ein Grund vorlag und der Universitätssenat (der sich aus Kollegen zusammensetzte) sein Votum dafür abgab, dass aber einem Professor nicht unbedingt gekündigt werden musste. Man konnte ihn auch dazu überreden, von selbst seinen Abschied zu nehmen, und ihm, wenn er nicht reagierte, das Leben so unmöglich machen, dass er, ob unkündbar angestellt oder nicht, früher oder später hinausgeekelt wurde. Doch das alles überzeugte Doris nicht. Sie wusste nur, dass ihr Mann von einem Jahr zum anderen entlassen werden konnte. Ohne feste, unkündbare Anstellung war kein Kündigungsgrund und kein Votum des Senats erforderlich.

Sie hatte ständig eine wirtschaftliche Krise vor Augen und wollte Sicherheit.

Und ich will sie auch, dachte Brade düster.

Er bog in den Fakultätsparkplatz ein und suchte sich ein freies Rechteck. Er nahm, was er kriegen konnte. Die reservierten Parkflächen an der Rückwand des Chemischen Instituts waren außerordentlichen und ordentlichen Professoren vorbehalten. Gewöhnlich achtete er nicht darauf, aber heute wurde er sich bewusst, dass auch dies ein Aspekt war, der mit der magischen Trennungslinie zwischen dem assistierenden und dem außerordentlichen Professor zu tun hatte. Er ging die Holztreppe hinauf, die um das Gebäude herum zum Haupteingang des Instituts führte. Zwei Studenten auf einer der steinernen Bänke an dem mit Backsteinen gepflasterten Weg quer über den Rasen sahen zu ihm auf. Der eine flüsterte dem anderen etwas zu, und sie folgten ihm mit ihren Blicken.

Brade zog die Schultern hoch und ging weiter. Er hatte sich keine Morgenzeitung gekauft; sicher stand alles darin.

Aber machte ihn das zu einem Objekt der Neugierde, verdammt noch mal?

Er merkte, dass er viel zu schnell ging, und zwang sich zu einer langsameren Gangart, als er durch die breite Doppeltür schritt. Und indem er hier linksherum ging, begann der Tag für ihn unter ungünstigem Vorzeichen. Er hätte sich nach rechts wenden sollen, wo der Aufzug war, der ihn zum vierten Stock und zu seinem Arbeitszimmer gebracht hätte.

Aber er wandte sich nach links und öffnete eine Tür, auf der CHEMISCHES INSTITUT stand - und kam sich plötzlich wieder wie der Volksschüler vor, den ein strenger, zwei Meter großer Lehrer zum zweieinviertel Meter großen Rektor geschickt hatte. Er sah auf seine Uhr. Es war 8 Uhr 20, und er war zehn Minuten zu früh. Jean Makris fertigte einen Studenten ab; sie stand auf, als Brade sich gerade setzte.

»Er wird Sie sofort empfangen, Professor Brade«, sagte sie. »Er führt gerade ein Ferngespräch.«

»Schon gut«, sagte Brade. »Ich bin zu früh, ich weiß.«

Sie trat hinter dem Schreibtisch hervor und kam auf ihn zu. Brade unterdrückte den Impuls, ein Stück zurückzuweichen, denn er hatte bei solchen Gelegenheiten immer den Eindruck, sie wollte ihm die Krawatte geradeziehen.

Jean Makris hatte ein längliches Gesicht mit vorstehenden Zähnen und einem bekümmerten Ausdruck, der aber, davon war Brade überzeugt, nichts mit einem wirklichen Kummer zu tun hatte. Sie war tüchtig, verstand es geschickt, unangenehme Besucher abzuschütteln, erinnerte ihn, Brade, an Verabredungen und Termine und ersetzte ihm, so gut sie konnte, in ihren freien Augenblicken die Sekretärin, die die Universität ihm nicht zubilligen wollte.

Sie sagte in vertraulichem Ton: »Ich war ganz aufgeregt gestern, nachdem Sie mich angerufen hatten, Professor Brade. Für Sie muss das ja schlimm gewesen sein.« »Es war schon ein Schock, Miss Makris.«

Ihr Ton wurde noch vertraulicher. »Ich hoffe, Ihre Frau hat sich nicht gewundert, weil Sie später kamen. Ich habe es ihr zu erklären versucht.«

»Ja, vielen Dank, das war nett von Ihnen.«

»Ich dachte nur, wo Sie immer so pünktlich sind, denkt Ihre Frau vielleicht, na ja, Sie wissen - sie ist vielleicht beunruhigt und denkt, na ja -« Brade fragte sich einen verstörten Augenblick lang, ob Miss Makris damit meinte, seine Frau könnte ihn eines Seitensprungs verdächtigt haben. Er blickte sie entgeistert an.

Sie kam jedoch gleich auf ein anderes Thema zu sprechen. »Ich nehme an, die Sache geht Ihnen deshalb besonders nahe, weil er ja bei Ihnen seine Arbeit machen wollte.«

>Ja, das kann man wohl sagen.« »Nun, in diesem Zusammenhang -« Es summte leise auf Miss Makris' Schreibtisch, und sie sagte sofort: »Professor Littleby lässt Sie jetzt bitten - aber ich erzähle Ihnen das noch, wenn Sie herauskommen.« Sie nickte ihm vielsagend zu. Als Brade aufstand und auf die Tür zu Littlebys Büro zuging, sah er gerade noch, wie sie ihre Bluse zu rechtzupfte, die zweifellos so jungfräulich weiß war wie der unscheinbare Busen darunter. Professor Littleby legte den Hörer auf; er lächelte mechanisch. Es mag einmal eine Zeit gegeben haben, sagte sich Brade, als dieses Lächeln echt gewesen war, doch Menschen in hohen Verwaltungspositionen können sich nicht darauf verlassen, dass eine menschliche Motivierung bei allen passenden Gelegenheiten ein Lächeln auslöst. Sie müssen ganz sichergehen, also wird diese Mechanik eingebaut und geölt, bis das Lächeln unter Garantie über das Gesicht zuckt, wie wenig dem Lächler innerlich auch danach zumute ist.

Sein eigenes mechanisches Lächeln aufsetzend, sagte Brade: »Guten Morgen, Professor Littleby.«

Professor Littleby nickte, rieb sich das Ohr und sagte: »Schreckliche Sache, das. Ganz schreckliche Sache.«

Sein breites, rosigglänzend glattrasiertes Gesicht spiegelte den angemessenen Augenblick lang Besorgnis wider: Er trug natürlich ein Jackett, aber darunter noch eine Weste. Er war der einzige Angehörige der Fakultät, der zu allen Jahreszeiten eine Weste trug, ob aus Ehrerbietung vor seiner Verwaltungsposition oder aus Unkenntnis der Tatsache, dass Westen zur Zeit nicht modern waren, vermochte Brade nicht zu sagen.

Die Zeit war für Littleby in den letzten zwanzig Jahren stehengeblieben. Damals war sein Buch über Elektrochemie in der dritten Auflage das Standardwerk auf diesem Gebiet gewesen. Aber zu einer vierten Auflage war es nicht gekommen, und jetzt war das Buch vergriffen. Gelegentlich sprach Littleby von einer neuen Auflage, an der er zu arbeiten gedachte, wenn er die Zeit dazu fand, aber sogar er selbst glaubte nicht mehr recht daran.

Es tat auch nichts zur Sache. Das Buch hatte seinen Ruf begründet, und ein paar Patente, die mit dem Elektroplattieren von Chrom zu tun hatten, sicherten ihm ein bescheidenes, aber unabhängiges Einkommen und gewiss den Aufstieg zum Leiter des Chemischen Instituts, wenn der alte Bannermann gestorben war.

Brade nickte und pflichtete ihm darin bei, dass »das« eine schreckliche Sache war.

»Natürlich ist es irgendwie nicht überraschend«, sagte Littleby, »dass es gerade diesem Studenten passieren musste. Ein richtiger Außenseiter, wie ich Ihnen schon gestern bei unserem Telefongespräch sagte. Ich habe mir die Fakultätsberichte über ihn angesehen, und die sind durchweg nicht günstig, auch wenn Sie persönlich mehr von ihm zu halten schienen.«

»Er war in mancher Beziehung ein schwieriger Mensch«, sagte Brade, »aber er hatte auch seine guten Seiten.«