I. Buch
Vorstoß ins Grenzenlose
Normalerweise ist für einen Technologie-Historiker nichts schwieriger, als den vorliegenden Stoff in zeitliche Abteilungen zu sortieren. Merkwürdigerweise fällt diese Periodisierung jedoch in der Geschichte der Raumfahrt ziemlich leicht.
Sie nahm ihren Anfang in der Literatur. Taugefüllte Flaschen, Ballons, Schwäne und andere höchst skurrile Antriebe beförderten imaginäre Reisende zu den phantastischsten Welten. Allerdings war zu dieser Zeit das Interesse weniger auf die Technologie gerichtet; die Abenteurer suchten die fremdartigen Völker nur deshalb auf, um sie das sagen zu lassen, was der Autor selbst nicht frei äußern durfte. Mehrere Vorgänger von Jules Verne und Isaac Asimov bekamen am eigenen Leibe zu spüren, daß die Phantasie der Folterknechte derjenigen der Autoren meist weit überlegen war.
Während die Schriftsteller noch mit immer größerer Sachkenntnis und Präzision die Zukunft erahnten und beschrieben, waren andere Männer bereits am Werk, das theoretische Rüstzeug für die Eroberung des Alls zu erarbeiten. Namen wie Ziolkowski, Goddard und Oberth sind heute jedem Schulkind vertraut – zu ihrer Zeit bewahrte sie nur das Attribut »harmlos« vor einer Einlieferung in geschlossene Anstalten.
4. Oktober 1957 – Sputnik. Mit astronomischen Fernrohren und Operngläsern, an Radioteleskopen und an Kleinempfängern verfolgten Laien und Fachwissenschaftler staunend die Bahn, die der erste von Menschenhand geschaffene Satellit pfeifend und piepsend um den Globus beschrieb.
Am 12. April 1961 jagte wieder ein künstlicher Mond um die Erde; diesmal aber trug er einen Menschen an Bord, den ersten Terraner, der die Erde als Kugel sah.
Der 20. Juli 1969 brachte den ersten entscheidenden Augenblick. Der erste Mensch auf dem Mond bescherte den Zurückgebliebenen jene Gefühle, die man heute unter dem Schlagwort des »Kosmischen Denkens« zusammenfaßt.
Einem sündhaft teuren Schrotthaufen war es beschieden, den nächsten Meilenstein auf der Straße menschlicher Triumphe zu bilden – der zusammengeschmolzene Teil der Landungsfähre, die die ersten Menschen 2010 auf dem Mars abgesetzt hatte. Die Marslandung zog endgültig den Schlußstrich unter ein zweitausendjähriges Kapitel der Menschheitsgeschichte, das von Kriegen und Tyranneien aller denkbaren Formen gekennzeichnet war. Alle weiteren Schritte zur Eroberung des Weltraums waren nur noch als globale Gemeinschaftsanstrengungen möglich. Die Nationalstaaten verschwanden, und mit ihnen alle Widerwärtigkeiten, die sie mit sich gebracht hatten.
Mars und Venus, die Saturn- und Jupitermonde wurden erforscht und in geringem Umfang besiedelt; dann wurden die Bemühungen der Menschheit einstweilen gestoppt. Selbst für an interplanetare Distanzen gewöhnte Menschen war der Leerraum zwischen der Sonne und dem nächsten Gestirn jenseits des begrifflichen Vermögens. Die geistige Umstellung von Astronomischen Einheiten auf Lichtjahre erwies sich als ungeheuer langwierig und mühselig.
Aber es ging weiter …
(Aus HISTORY OF TECHNOLOGY; Bd. I, Vorwort)
1.
Marsh Garfield langweilte sich.
Für ihn war dieses Gefühl nicht sonderlich neu; es war die unerbittliche Konsequenz der Tatsache, daß er sich selbst zu genau kannte. Er wußte, wo seine Fähigkeiten ihre Grenze hatten. Es gab für ihn nichts Neues, nichts Aufregendes mehr: Zehn lange Jahre als Raumpilot hatten ihn gelehrt, selbst Ungewöhnlichem und Gefahren mit einer gewissen Routine zu begegnen.
Mit einem leisen Knistern schmolz das Eis in dem dünnwandigen Glas, das er in seiner rechten Hand hielt; zwischen den Fingern der Linken steckte eine Zigarette, von der bläuliche Rauchfäden in die Höhe stiegen.
Marsh Garfield war seit einigen Monaten fünfunddreißig Jahre alt; sein Aussehen war nicht gerade typisch für die Menschheit des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, zeigte aber, was möglich war, sobald die Rassenvorurteile überwunden worden waren. Seine Ahnen stammten aus nahezu jedem Winkel der Erde. Er war fast zwei Meter groß. Seine Haut besaß den satten Bronzeton, der hauptsächlich in Indochina anzutreffen war. Einen auffälligen Kontrast bildeten die fast schwarzen, schulterlangen Haare und die hellblauen Augen unter den dicken Brauen.
Marsh, dessen Urlaub sich dem Ende zuneigte, sah flüchtig auf seine Uhr. Neben einem Quarzchronometer enthielt das Gehäuse noch einen Strahlungsmesser und einen leistungsfähigen Kleinsender.
»23. Juli des Jahres 2170, 16.47 Uhr«, sagte er halblaut. »In vierzehn Tagen beginnt der Alltag wieder.«
Sein Alltag bestand darin, Menschen und Material kreuz und quer durch das Sonnensystem zu transportieren. In Fachkreisen galt Marsh Garfield als einer der besten Skipper Terras. Bisher hatte er erst einmal eine Ladung verloren – einhundert Tonnen Filme meist unterhaltender Art. Jetzt trieb die Ladung jenseits der Plutobahn und mochte in einigen Millionen Jahren die Bewohner irgendeines fernen Systems verblüffen oder entsetzen.
Ein sanfter Glockenton durchdrang die Stille und riß Marsh aus seinen Gedanken.
»Besuch«, sinnierte er, während er sich langsam aus dem dunkelbraunen Ledersessel erhob. »Wer mag das sein?«
Als Marsh die Tür öffnete, hob er überrascht die Brauen. Vor ihm standen zwei hochgewachsene Männer mit einem verdächtig militärisch wirkenden kurzen Haarschnitt.
»Sie sind Marsh Garfield?« sagte einer der beiden Männer; es klang mehr wie eine Feststellung.
»Richtig«, bestätigte Marsh gelassen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Würden Sie bitte mit uns kommen?«
Marsh schüttelte den Kopf und meinte: »Nicht, wenn Sie mir nicht einen Grund dafür nennen.«
Am Straßenrand erkannte er einen schweren Luftkissengleiter; auf den Seitenflächen glänzte das Abzeichen der Polizeikräfte des World Space Center.
»Haben Sie einen Haftbefehl?« fragte Marsh ungeduldig.
»Nein«, gestand der andere Polizist. »Wir möchten Sie nur höflich bitten, uns auf einer kleinen Fahrt zu begleiten.«
»Wenn es denn sein muß«, meinte Marsh, den die Neugierde reizte.
Er angelte seine Jacke von einem Haken, folgte den Männern zum Gleiter und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der Fahrer ließ die Maschinen anlaufen, wartete, bis das Luftpolster unter der Bodenplatte aufgebaut war, und schob den Beschleunigungshebel nach vorne. Während der gesamten Fahrt, die etwa eine Stunde in Anspruch nahm, fiel kein Wort.
Interessiert betrachtete Marsh die Landschaft, an der das Fahrzeug vorbeifegte. Palmerstone war eine Zweigstadt der Oligopolis von Cape Canaveral. Bunte Plastik- und Schaumstoffgebäude mit teilweise abenteuerlichen Grundrissen und Konstruktionen kennzeichneten den Ort; was irgendwie bemalbar war, leuchtete in allen Farben des Spektrums. Zu Marshs Verwunderung fuhr der Gleiter nicht zum Raumhafenkontrollturm, sondern benutzte eine weitere Abzweigung, deren Einfahrt von bewaffneten Polizisten gesichert wurde. Marsh lehnte sich in seinem Sitz zurück und beschloß, vorerst nichts zu unternehmen.
»Ans Leben wird es einstweilen wohl nicht gehen«, murmelte er so leise, daß seine Begleiter ihn nicht hören konnten.
Die Straße senkte sich und mündete in eine unterirdische Röhre, an deren Öffnung wieder Bewaffnete jeden Ankömmling scharf kontrollierten. Die Röhre mündete in einen unterirdischen Verteilerkreis, von dem aus zahlreiche weitere Straßen abzweigten und ein gewaltiges Labyrinth vermuten ließen.
Beiläufig fragte Marsh seinen Nebenmann: »Wie groß ist diese Anlage hier?«
Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, gab er zu. »Ich weiß nur, daß hier unten ungefähr achtzigtausend Menschen leben und arbeiten.«
Marsh pfiff leise durch die Zähne.
Er fragte sich, was diese Kleinstadt unter der Erde zu bedeuten hatte. Welcher Arbeit gingen die Menschen hier unter der Erdoberfläche nach? Und wichtiger noch: Was wollte man von ihm?