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Ich aber fühlte mich wohl in halbdunklen Räumen, ich hörte gern Musik von Monteverdi, und mir gefiel Weihrauchduft. Ich mochte die Fenster alter Kirchen, ich mochte das Netz der Schatten in gotischen Gewölben, ich mochte die Darstellungen von Christus Pantokrator, dem goldumfassten Heiland als Herrscher der Welt, ich mochte Holzschnitte des Mittelalters, ich mochte auch die sanfte Menschlichkeit der Madonnen Raffaels. Ich war beeindruckt von den Bekenntnissen des Augustinus, ich fühlte mich belehrt von den Haarspaltereien des heiligen Thomas, ich empfand eine warme Zuneigung zur Menschengattung an sich, und ich hatte wirklich keine Lust, meine Tage in einem Büro zu versitzen. Außerdem war ich unbegabt dafür, mich selbst anzufassen. Eine Zeitlang hatte ich es regelmäßig getan, wütend, voll Ekel, überzeugt davon, eine ästhetische Verfehlung zu begehen, eine Sünde eher gegen die Schönheit als gegen die Moral. Ich sah mich dabei wie von weitem: ein rotgesichtiger junger Mann, ein wenig rundlich schon, hektisch und mit schmalen Augen an sich selbst hantierend. Und so gewöhnte ich es mir bald wieder ab. Man sollte auch das nicht zugeben im Zeitalter der Psychologen, aber der Würfel machte mehr Spaß.

Und die Sache mit Gott würde ich auch noch hinbekommen. Das dachte ich. So schwer konnte es doch nicht sein. Wenn man sich nur ein wenig Mühe gab, musste es zu schaffen sein.

Insgeheim rechnete ich damit, dass meine Taufe es in Ordnung bringen würde. Aber als der Moment tatsächlich da war, wurde die Kirche gerade renoviert: Die Wände waren kaum zu sehen hinter Stahlträgern, vor dem Altarbild hing eine Plastikplane, und leider funktionierte auch die Orgel nicht. Das Wasser fühlte sich an wie Wasser, der Taufpriester sah wie ein verstockter Wirrkopf aus, und neben meiner melancholisch lächelnden Mutter kämpfte mein Bruder Iwan sichtlich mit einem Lachanfall.

Und doch war ich zuversichtlich, dass der Glaube sich einstellen würde. So viele kluge Leute glaubten doch. Man musste nur mehr lesen, mehr Messen besuchen und mehr beten. Man musste üben. Sobald ich an Gott glauben würde, würde alles sich ordnen, dann würde mein Leben nachträglich zu einem Schicksal werden. Dann würde alles Fügung gewesen sein.

Den einundzwanzigsten Geburtstag feierte ich mit meinen Studienkollegen Finckenstein und Kalm in einem verrauchten Studentenlokal.

«Augustinus ist Schrumpf-Aristoteliker», sagte Finckenstein. «Er steckt tief in der Substanzontologie, deshalb ist er auch überholt!»

«Aristoteles ist nicht überholt», antwortete Kalm. «Er ist die Vernunft selbst!»

Nur in Studentenzeiten führt man solche Gespräche. Finckenstein trug dicke Brillen, hatte sehr rote Wangen und war fromm wie ein Kind. Kalm war ein sanftmütiger Fanatiker, Thomist und schlauer Verteidiger der Heiligen Inquisition. An den Wochenenden nahm er an Ruderwettkämpfen teil, er interessierte sich für Modelleisenbahnen und hatte, was ihn unter Kollegen zum Gegenstand verstohlenen Neides machte, eine Freundin. Vor ihm lag Arthurs Buch Mein Name sei Niemand. Ich tat, als würde es mir nicht auffallen, und keiner von ihnen erwähnte es. Es war auch nichts Ungewöhnliches daran, man sah es in diesem Jahr überall.

«Augustinus’ Zeittheorie fällt weit hinter die aristotelische Tradition zurück», sagte ich. «Alle zitieren von ihm den Satz, dass man weiß, was die Zeit ist, solange man nicht darüber nachdenkt. Das ist schön, aber als Erkenntnistheorie ist es schwach.»

«Erkenntnistheorie war ja noch nicht das Paradigma», sagte Kalm. «Das war die Ontologie.»

Erschöpft schwiegen wir. Ich legte Geld auf den Tisch und stand auf.

«Was betrübt dich, Friedland?»

«Der Gang der Jahre. Der Verlust der Zeit, die Nähe von Tod und Hölle. Du kennst das nicht, du bist erst neunzehn.»

«Gibt es die Hölle denn?», fragte Finckenstein. «Was sagt die Ontologie?»

«Geben muss es sie», sagte Kalm. «Aber leer könnte sie sein.»

«Und was geschieht dort? Feuer, das schmerzt, doch nicht verbrennt, wie bei Dante?»

«Dante schildert nicht die Hölle», sagte Kalm. «Dante schildert die Wahrheit unseres Daseins. In der Hölle sind wir allenfalls nachts, in den Momenten der Wahrheit, die wir Albtraum nennen. Was auch immer die Hölle sein mag, der Schlaf ist das Tor, durch das sie hereindringt. Jeder kennt sie, denn man ist jede Nacht dort. Die ewige Bestrafung ist einfach ein Traum ohne Erwachen.»

«Na dann», sagte ich. «Ich gehe schlafen.»

Draußen stand schon die Straßenbahn. Ich stieg ein, und sofort fuhr sie los, als hätte sie auf mich gewartet. Ich setzte mich.

«Entschuldigung», sagte eine dünne Stimme. Vor mir kauerte ein zerlumpter Mann mit wucherndem Bart und zwei prall gefüllten Plastiksäcken. «Geben Sie?»

«Bitte?»

«Geld», sagte er. «Was ihr dem geringsten meiner Brüder. Das habt ihr mir. Sagt der Herr.»

Er hielt mir eine schrundige Handfläche hin. Selbstverständlich griff ich in die Jackentasche, aber im gleichen Moment war er auch schon in die Knie gegangen. Dann legte er sich auf den Rücken.

Verblüfft beugte ich mich vor. Er lächelte und rollte langsam, fast genüsslich hin und her – von der linken Schulter auf die rechte und wieder zurück. Ich sah mich um. Es waren nur noch wenige Leute im Waggon, und sie blickten alle starr woandershin.

Aber es war meine Pflicht. Das Christentum verlangte es. Ich stand auf und beugte mich über ihn.

«Brauchen Sie Hilfe?»

Er legte eine Hand um meinen Knöchel. Sein Griff war erstaunlich fest. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, zwei Frauen stiegen eilig aus, der Waggon war nun fast leer. Er sah mich an. Sein Blick war klar, scharf und aufmerksam, nicht verwirrt, eher neugierig. Ein Rinnsal Blut lief aus seiner Nase und verlor sich im grauen Filz des Bartes. Die Türen schlossen sich, die Bahn fuhr an. Ich versuchte, mein Bein aus seinem Griff zu ziehen. Aber er ließ nicht los.

Kein anderer Fahrgast blickte her. Wir waren im zweiten Waggon, der Fahrer schien unerreichbar fern. Seine freie Hand griff zu und klammerte sich so fest um mein anderes Bein, dass ich die Fingernägel spürte. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, wieder stiegen Leute aus, die Bahn wartete kurz, die Türen schlossen sich, und weiter ging es. Ein angebissener Apfel rollte unter einem Sitz hervor, änderte seine Richtung und verschwand unter einem anderen Sitz. Ich konnte nicht weg, der Mann war stärker, als er aussah. Er fletschte die Zähne, blickte fragend in mein Gesicht und schloss die Augen. Ich riss an meinem rechten Fuß, aber ich kam nicht frei. Sein Atem ging hastig, sein Bart zitterte. Er sog scharf die Luft ein, dann spuckte er. Ich fühlte etwas Warmes und Weiches an meiner Wange herablaufen. Er fauchte.

Da trat ich zu. Er wollte sich aufrichten, aber ich trat ein zweites Mal, und er sank zu Boden. Meine Zehen schmerzten. Ich packte einen der Haltegriffe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und trat ein drittes Mal. Eine seiner Hände löste sich, die andere nicht, ein Plastiksack fiel um, und Dutzende Papierknäuel rollten heraus: Zeitungsseiten, Buchseiten, Seiten aus Hochglanzmagazinen und Werbebroschüren. Aus dem anderen Sack drang ein Wimmern; mir war, als hätte sich etwas darin bewegt. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, ich trat auf sein Handgelenk, er stöhnte, und endlich ließ auch die Linke los. Ich sprang hinaus und begann zu rennen.

Ich rannte lange. Erst als ich nicht mehr konnte, blieb ich stehen und sah keuchend auf die Uhr. Zehn Minuten nach Mitternacht. Mein Geburtstag war vorbei.

«Er war es nicht», sagte Iwan. «Ganz sicher.»

«Wer weiß.»

«Es war nicht der Teufel! Auch wenn dir das recht wäre. Ihr Leute sucht immer nach etwas, das euren Glauben stärkt. Aber er war es nicht.»

Wir saßen in dem Raum, der einst Arthurs Bibliothek gewesen war. An den Wänden reihten sich Buchrücken, von draußen war das friedliche Geräusch eines Rasenmähers zu hören.