«Glaube ist nicht so wichtig», sagte ich.
«Ach.»
«Der Priester hat die Kraft, zu binden und zu lösen. Egal, was er dabei denkt. Er muss nicht ans Sakrament glauben, damit das Sakrament sich vollzieht.»
«Und das glaubst du?»
«Das muss ich gar nicht glauben, es stimmt in jedem Fall.»
Bald würde Iwan in Oxford studieren. Jeder wusste, dass ihm Großes bestimmt war, und niemand bezweifelte, dass er in zehn Jahren ein berühmter Maler sein würde. Immer hatte ich mich unsicher gefühlt in seiner Gegenwart, immer unterlegen, aber der Katholizismus bot mir plötzlich eine Position, eine Haltung und ein Argument zu allem.
Iwan setzte zu einer Antwort an, da flog die Tür auf, und er kam ein zweites Mal herein. Obgleich ich darauf vorbereitet war, funktionierte der Zaubertrick, und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen.
«Würdest du mir bitte nie mehr dieses Buch hinlegen?» Eric warf eine Ausgabe von Mein Name sei Niemand auf den Tisch. «Ich werde das nicht lesen.»
«Aber es ist interessant», sagte Iwan. «Ich wüsste gerne, was du –»
«Interessiert mich nicht. Von mir aus kann er sterben. Ist mir egal, was er schreibt.»
«Eric meint das nicht so», sagte Iwan. «Er ist nur manchmal theatralisch.»
«Und du?», fragte Eric mich. «Meinst du das ernst? Beten, Kirche, Priesterseminar? Du meinst das wirklich ernst? Wir sind doch Juden, geht das überhaupt?»
«Wir sind keine Juden», sagte Iwan.
«Aber unser Großvater –»
«Trotzdem», sagte Iwan. «Wir sind leider nichts. Du weißt das.»
«Martin macht das ohnehin nur, weil er keine Freundin findet.»
Ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen. Auf keinen Fall durfte ich rot werden.
«Ich bin entsetzt von der Plattheit deines Geistes», sagte Iwan. «Martin ist ein ernsthafter Mensch. Ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst, aber er glaubt und will dienen. Du wirst das nie verstehen.»
Eric starrte mich an. «Im Ernst? Die Jungfrau, Wasser in Wein, die Auferstehung? Wirklich?»
«Das ist ein Prozess.» Ich räusperte mich. «Im Glauben ist man immer auf dem Weg. Man ist nie –»
«Du willst einfach nicht arbeiten!»
Ich stand auf. Wie schaffte er es immer so schnell, mich wütend zu machen? Wieso stimmte immer alles, was er sagte, und wieso stimmte es immer auf so falsche Art?
«Wenn dir das Beten irgendwann zu viel wird, kommst du angekrochen», sagte Eric. «Dann flehst du darum, dass ich dich anstelle.»
«Und was tust du dann? Wenn ich angekrochen komme?»
«Dann stelle ich dich an, was sonst? Du bist mein Bruder.» Er lachte und ging grußlos hinaus.
«Er ist nervös in letzter Zeit», sagte Iwan. «Er schläft zu wenig. Nimm ihn nicht ernst.» Er schlug Mein Name sei Niemand auf, blätterte geistesabwesend ein paar Seiten um und klappte es wieder zu. «Ich habe auch mal geglaubt, ich wäre dem Teufel begegnet. Es war im Kaufhaus, da war ich zehn Jahre alt. Eine Frau an einem Wühltisch, sie sah nicht ungewöhnlich aus, und sie tat auch nichts Besonderes, aber ich wusste: Wenn ich ein paar Sekunden länger bleibe, passiert etwas Schreckliches. Mutter hat mich erst eine Stunde später gefunden, hinter einem Kühlschrank in der Elektroabteilung, sie war ganz außer sich vor Angst. Ich glaube immer noch, ich habe richtig reagiert. Wenn sie mich gesehen hätte …» Er blickte nachdenklich zum Fenster. Draußen schwang ein Gärtner seine Heckenschere, das Metall blitzte in der Sonne. «Aber das ist Unsinn. Ich war zehn.» Er sah auf die Tischplatte, dann zu mir, als hätte er für einen Moment vergessen, dass ich da war. «Und sonst? Absichten, Pläne? Macht man doch an seinem Geburtstag. Vorsätze?»
«Ich trainiere für die Meisterschaften.»
«Der Würfel schon wieder?»
«Der Würfel.»
«Viel Glück. Aber wichtiger …»
«Ja?»
«Nichts.»
«Sag schon!»
«Na ja, irgendjemand muss es wohl mal sagen. Solange noch Zeit ist, etwas dagegen zu tun. Du solltest …»
«Ja?»
«Egal.»
«Sag es!»
«Abnehmen, frommer Bruder. Noch geht es, aber später wird es immer schwieriger. Du solltest wirklich abnehmen.»
Ist Mein Name sei Niemand ein fröhliches Experiment und damit das zweckfreie Produkt eines spielenden Geistes, oder ist es ein böswilliger Angriff auf die Seele jedes Menschen, der es liest? Niemand weiß es so recht, vielleicht stimmt ja beides zugleich.
Den Anfang bildet eine altmodische Novelle über einen ins Leben aufbrechenden jungen Mann, von dessen Namen wir nur den ersten Buchstaben erfahren: F. Die Sätze sind wohlgebaut, die Erzählung fließt kraftvoll, fast läse man mit Vergnügen, hätte man nicht ständig das Gefühl, man würde verspottet. F wird auf die Probe gestellt, er bewährt sich, kämpft, lernt, gewinnt, lernt mehr, verliert und entwickelt sich fort, alles nach altbewährter Manier. Doch einem ist, als bedeute kein Satz einfach sich selbst, als beobachte die Geschichte ihren eigenen Fortgang und als stehe in Wahrheit nicht die Hauptfigur im Zentrum, sondern der Leser, der all dem so bereitwillig folgt.
Nach und nach häufen sich kleine Unstimmigkeiten. F ist daheim, blickt hinaus in den Regen, zieht Jacke und Mütze an, nimmt seinen Regenschirm, verlässt das Haus, flaniert durch die Straßen, in denen es nicht regnet, zieht Mütze und Jacke an, nimmt den Regenschirm und verlässt das Haus, als hätte er das nicht eben schon getan. Kurz danach tritt ein entfernter Verwandter von ihm auf, von dem wir zuvor in einem Nebensatz erfahren haben, dass er bereits seit zehn Jahren tot ist, ein harmloser Jahrmarktsbesuch eines Großvaters mit seinem Enkel verwandelt sich in einen labyrinthischen Albtraum, eine folgenreiche Ungeschicklichkeit von F wird ohne Umschweife rückwirkend ungeschehen gemacht. Natürlich bildet man sich Theorien. Nach und nach hat es den Anschein, als käme man dem Verstehen näher, dann meint man sich bereits kurz davor, aber da bricht die Erzählung ab – einfach so, ohne Warnung, mitten im Satz.
Wieder versucht man, sich darauf einen Reim zu machen. Vielleicht ist der Held gestorben. Vielleicht sind die Unstimmigkeiten Vorboten des Endes, die ersten schadhaften Stellen gewissermaßen, bevor das Gewebe vollends zerreißt. Denn was, scheint der Autor zu fragen, ist der Tod anderes als ein Ende mitten im Satz, über das der, den es betrifft, nie hinauskommt, als eine lautlose Apokalypse, in der nicht ein Mensch aus der Welt, sondern die Welt selbst verschwindet, ein Ende aller Dinge ohne Schlusspunkt?
Im zweiten Teil geht es um etwas anderes. Darum nämlich, so versichert der Autor, dass du, jawohl du, und das ist keine rhetorische Wendung, dass also du nicht existierst. Du meinst, du liest das hier? Selbstverständlich meinst du das. Aber das hier liest keiner.
Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei «Atome» ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie? Eine Zahl, die konstant bleibt, in allen Veränderungen, eine abstrakte Summe, die sich erhält, nicht Substanz, sondern Verhältnis, also reine Mathematik. Je genauer man hinsieht, desto leerer wird alles, desto irrealer sogar die Leere. Denn auch der Raum ist bloß eine Funktion, ein Modell unseres Geistes.
Und der Geist, der diese Modelle erschafft? Vergiss nicht: Im Gehirn wohnt niemand. Kein unsichtbares Wesen schwebt durch die Nervenwindungen, blickt durch die Augen, horcht von innen an den Ohren und spricht durch deinen Mund. Augen sind keine Fenster. Da sind Nervenimpulse, aber niemand liest sie, zählt sie, übersetzt sie und denkt über sie nach. Such, so lange du willst, niemand ist zu Hause. Die Welt ist in dir, und du bist nicht da. Denn «du», das ist auch von innen gesehen bestenfalls ein Provisorium, notdürftig zusammengeflickt: ein paar Millimeter Blickfeld, das an den Rändern schon ins Nichts rinnt, darin blinde Flecken, ausgefüllt von Gewohnheit und einem Gedächtnis, das wenig bewahrt und das meiste erfindet. Dein sogenanntes Bewusstsein ist ein Flackern, ein Traum ist es, den niemand träumt.