So geht es über fünfzig Seiten, und beinahe funktioniert es, fast ist man überzeugt. Nur beschleicht einen das Gefühl, auch dies sei nur eine ironische Demonstration von – ja, was eigentlich? Denn schon ist man beim Schlusskapitel. Es ist kurz und gnadenlos und handelt, daran besteht kein Zweifel, von Arthur selbst.
F tritt wieder auf, und es geschieht auf wenigen Seiten die Zergliederung eines Menschen: Begabt, ohne Mut, zögerlich, egozentrisch bis an die Grenze der Gemeinheit, angeekelt von sich selbst, bald schon gelangweilt von der Liebe, unfähig, sich ernsthaft mit etwas abzugeben, auch die Kunst bloß als Vorwand für Untätigkeit nützend, nicht gewillt, sich für andere zu interessieren, nicht imstande, Verantwortung zu übernehmen, zu feige, sich dem eigenen Scheitern zu stellen, ein schwacher, unehrlicher, überflüssiger Mensch, talentiert nur für leere Gedankenspiele, für Scheinkunst ohne Substanz und für das lautlose Entkommen aus jeder unangenehmen Situation, hat endlich den Punkt erreicht, an dem er aus reinem Überdruss am eigenen Selbst behaupten muss, niemand habe ein Selbst und jedes Ich sei eine Täuschung.
Aber auch dieser dritte Teil ist nicht so klar, wie es scheint. Ist dieser Selbsthass wirklich echt? Nach den Ausführungen zuvor gibt es doch gar kein Ich, und all die Gewissenserforschung hat keinen Sinn. Welcher Teil hebt welchen auf? Der Autor gibt keinen Hinweis.
Iwan, Eric und ich hatten je ein Exemplar mit der Post bekommen, in einem Kuvert aus braunem Packpapier, ohne Widmung oder Absender. Das Buch wurde nirgendwo besprochen, und ich sah es in keinem Geschäft. Erst ein Jahr später fiel es mir zum ersten Mal auf der Straße auf. Ich war auf dem Heimweg von der Universität, und für einen Moment hielt ich, was ich sah, für eine Einbildung. Aber da war es wirklich, in den Händen eines alten Herrn auf einer Bank, der beim Lesen angespannt vor sich hin lächelte, offenbar gefangen vom Zweifel an seiner eigenen Existenz. Ich bückte mich und blickte auf den einfarbig blauen Umschlag, der Herr sah beunruhigt auf, ich ging schnell weiter. Zwei Wochen später sah ich das Buch wieder, diesmal in der U-Bahn, ein Mann mit Ledertasche und fransigem Hut las darin. Als ich es in der nächsten Woche ein zweites Mal sah, standen schon in allen Zeitungen Artikel darüber, da hatte es gerade den ersten Menschen in den Tod gelockt.
Eine verträumte Seele mit metaphysischer Neigung war es gewesen, ein Medizinstudent in Minden, der nach der Lektüre ein wirres Experiment entworfen hatte, um sich seines Daseins zu versichern. Niemand verstand die Einzelheiten, aber es hatte etwas mit einem Minutenprotokoll seiner Seelenregungen zu tun, mit kontrollierten Nadelstichen, die er abwechselnd sich selbst und einem bedauernswerten Meerschweinchen zufügte, sowie mit einem genau vorbereiteten und mit viel Bedacht ausgeführten Sprung von einer Eisenbahnbrücke. In der Woche darauf sprang eine junge Frau vom Münchner Fernsehturm, in den Händen eine Ausgabe von Mein Name sei Niemand, was eine weitere Flut von Zeitungsartikeln auslöste, die wiederum zur Folge hatte, dass der Besitzer eines Obstladens in Fulda gemeinsam mit seiner Frau Gift nahm. Zwischen den beiden Leichen lag Arthurs Buch.
Damit war die Selbstmordwelle auch schon am Ende, doch die Welle der Artikel, Kommentare und Gegenkommentare hielt noch eine Weile an, zumal kurz darauf ein bekannter Radiomoderator auf eigenen Wunsch in die geschlossene psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, nachdem er in seiner Sendung erklärt hatte, von seiner substanziellen Nichtexistenz überzeugt zu sein. Dass er danach eine längere Passage aus Mein Name sei Niemand vorgelesen hatte, führte dazu, dass der zuständige Parlamentsausschuss die Frage debattierte, ob man das Gesetz zur Indizierung gefährlicher Filme, Videospiele und Bücher nicht viel strenger anwenden müsse. Das provozierte höhnische Erklärungen mehrerer Abgeordneter sowie die Stellungnahme eines Bischofs, was wiederum eine neue Welle von Kommentaren nach sich zog, in der auch ausführlich darüber spekuliert wurde, wer denn dieser Arthur Friedland sei, der sich derart still verhielt, sein Buch nicht verteidigte, nicht auftrat und sich nicht einmal fotografieren ließ.
Als das Thema dermaßen erschöpfend beredet worden war, dass es niemanden mehr gab, den es nicht langweilte, war Arthur berühmt. Sein zweites Buch, der Roman Die Stunde des Jägers, ein scheinbar konventioneller Krimi über einen zutiefst melancholischen Detektiv, der trotz großer Intelligenz und verzweifelter Bemühung nicht in der Lage ist, einen eigentlich recht einfachen Fall zu lösen, stand mehrere Wochen lang auf den unteren Rängen der Bestsellerlisten.
Bald darauf erschien der Roman An der Mündung des Flusses: Eines Mannes Geschick verzweigt sich wieder und wieder durch Entscheidungen oder durch Wechselfälle des Glücks. Jedes Mal werden beide Varianten beschrieben, beide möglichen Lebenswege, die an ein und demselben Punkt ihren Ausgang nehmen. Immer öfter mischt sich der Tod hinein, zwischen einem gelungenen Dasein und dessen schrecklichem Ende liegt oft nur ein Augenblick der Unaufmerksamkeit oder ein winziger Zufall – immer mehr Wege führen zu Krankheit, Unfall und Sterben, nur ganz wenige zu hohem Alter.
Dieses Buch berührte mich auf das Merkwürdigste, und bis heute macht es mir Angst. Zum Teil weil es zeigt, wie unübersehbar die Konsequenzen jeder Entscheidung und jeder Bewegung sind – jede Sekunde kann alles zunichtemachen, und wenn man das zu Ende denkt, wie lässt es sich überhaupt leben? Zum Teil aber auch, weil ich nie den Verdacht loswerden konnte, dass es mehr als Arthurs andere Bücher mit mir zu tun hat: mit einem lange vergangenen Nachmittag im Sommer, an dem mich ein Auto beinahe getötet hätte, was jetzt nur mehr eine ferne Erinnerung ist, eine kurze Anekdote und allenfalls dann und wann ein Echo in schlechten Träumen nach einem schweren Abendessen.
Das Holz knarrt, eine Gestalt schiebt sich herein und sinkt in die Knie. Ich lege den Würfel weg. Gerade eben habe ich es in achtundzwanzig Sekunden geschafft, meine Bestzeit liegt bei neunzehn, aber das ist lange her.
«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes», sage ich ärgerlich.
«In Ewigkeit, amen», antwortet eine heisere Männerstimme.
«Ich höre.»
Er schweigt, atmet schwer, sucht nach Worten. Ich blicke wieder auf den Würfel, aber es geht nicht, man könnte die Drehung der Gelenke hören, er würde es merken.
«Unkeuschheit. Ich habe mich selbst befriedigt. Ich tue es ständig!»
Ich seufze.
«Gerade vorhin. Auf der Straße. Keiner hat es gesehen. Ich habe eine Frau und eine Freundin. Beide wissen voneinander, aber sie wissen nichts von meiner zweiten Freundin, die aber von ihnen beiden weiß. Dann habe ich noch eine dritte Freundin, von der sie alle nicht wissen. Sie weiß von den anderen auch nichts, sondern denkt, ich lebe allein.»
Ich reibe mir die Augen. Müde bin ich, und es ist so heiß.
«Das Ganze ging nicht mehr gut, als Klara meine Frau auf Facebook verspottet hat. Sie hat nicht daran gedacht, dass Pia ja ihre Freundin ist und das lesen kann.»
«Ihre Freundin?»
«Facebook-Freundin. Ich habe allen gesagt, jetzt höre ich auf, jetzt wird es anders. Aber es ist so schwer! Wie machen Sie es denn? Nie eine Frau! Ich werde schon nach zwei Stunden zittrig.»
«Sprechen wir von Ihnen.»
«Außerdem habe ich Geld genommen.»
«Ach.»
«Nicht sehr viel. Tausend Euro. Aus der Firmenkasse.»
«Was ist Ihr Beruf?»
«Ich bin Steuerberater. Meine Freundin arbeitet in meiner Kanzlei.»
«Welche?»
«Welche Kanzlei?»