Ich konzentriere mich auf den Würfel. Ich muss besser werden in der Anwendung der Petrus-Methode. Die Konkurrenz ist stark, die jungen Leute sind schnell, und für die Weltmeisterschaft ist der konventionelle Weg zu langsam. Inzwischen werden bei vielen Wettbewerben die Würfel mit Vaseline geschmiert, damit sie sich schneller drehen lassen. Als ich anfing und der Würfel neu war, begann man mit einer Fläche, die man herstellte, aufbrach und dann wiederherstellte, aber heute geht das gar nicht mehr. Jetzt arbeitet man mit zwei Ebenen gleichzeitig, von denen aus man den Rest aufbaut, ohne je etwas aufbrechen zu müssen. Das geht schneller, aber man muss höllisch aufpassen, nichts ist mechanisch, nichts läuft von selbst. Den ersten Block muss man intuitiv finden, und wenn man nicht schnell genug ist, verliert man Sekunden, die nicht mehr aufzuholen sind.
Eine Hand berührt meine Schulter. Eine andere Sekretärin, etwas älter. «Ihr Bruder hat jetzt Zeit.»
Erics Büro sieht aus, wie ich es mir vorgestellt habe: der aufgeräumte Schreibtisch, das protzig große Fenster, die angeberische Aussicht auf Dächer, Fernsehantennen und Türme. Mein Bruder sitzt reglos, blickt auf einen riesigen Bildschirm und tut, als bemerke er mich nicht.
«Eric?»
Er antwortet nicht. Sein Finger klickt auf der Maus, dann greift er langsam nach einem Wasserglas, führt es an die Lippen, trinkt, seufzt leise und stellt es ab.
Wie lange soll das so gehen? Ich ziehe einen der lederbezogenen Stühle heran, lasse mich hineinsinken und bin sofort gefangen in seiner Weichheit.
Eric dreht den Kopf, sieht mich an und sagt nichts.
«Na?», sage ich.
Er schweigt.
«Was gibt’s?», sage ich.
«Kann ich etwas für dich tun?»
Ich reibe mir die Augen. Wann immer wir uns sehen, egal, unter welchen Umständen, egal, wann, und egal, wo, er findet immer eine Möglichkeit, mich wütend zu machen. «Du hast mich angerufen!»
«Ich weiß.» Er mustert mich, ohne das Gesicht zu verziehen. «Wir haben gesprochen.»
«Haben wir nicht! Es war deine Sekretärin. Sie hat gesagt, ich soll unbedingt kommen.»
«Ich weiß.»
«Also worum geht es?»
Er greift nach irgendeinem Papier, betrachtet es, grinst kurz, greift nach einem anderen, wird wieder ernst, legt beide weg, nimmt sein Telefon und blickt darauf. «Wie geht es dir?»
«Gut. In sechs Monaten ist die Landesmeisterschaft. Gewinnen kann ich wohl nicht, aber ich kann noch teilnehmen.»
Er starrt mich an.
«Der Würfel.»
Er starrt mich an.
«Rubiks Würfel!»
«Den gibt es noch?»
Ich beschließe, darauf nicht einzugehen. «Und wie geht es dir?»
«Interessante Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt in Osteuropa, parallel hedgen wir mit alternativen Energien. Hast du schon gegessen?»
Ich zögere. Ich denke an mein Frühstück, an die Schokoriegel im Beichtstuhl, an die Currywurst auf dem Weg, ich denke an die trockenen Kekse draußen. «Nein.»
«Na dann komm!» Er springt auf und geht hinaus, ohne auf mich zu warten.
Ich will mich aus dem Stuhl wuchten, aber die Lehnen geben nach, und ich sinke zurück. Durch die offene Tür beobachtet mich die ältere Sekretärin. Erst beim dritten Versuch schaffe ich es; ich lächle ihr zu, als hätte ich es mit Absicht gemacht, ein Meisterclown und König des Slapsticks, und gehe durch den Korridor zum Fahrstuhl, wo mein Bruder wartet.
«Na endlich!», ruft er.
Im Lift stehen zwei Männer mit Krawatten, die Wandspiegel vervielfältigen uns zu einer Menschenmenge.
«Gibt es eigentlich statistische Untersuchungen?», fragt Eric. «Zu Horoskopen und Lebensläufen? Ob die Dinge sich so entwickeln, wie die Astrologen es vorhersagen? Das müsste man doch statistisch klären können. Weißt du etwas darüber?»
«Woher soll ich etwas darüber wissen?»
«Ihr stellt doch Horoskope!»
«Nein!»
«Nein?»
«Horoskope sind Blödsinn!»
«Ihr stellt keine Horoskope?»
«Ist das ein Witz?»
Er holt sein Telefon hervor, tippt und steckt es wieder ein. Der Lift hält, wir steigen aus, ich kann kaum mit ihm Schritt halten. Wir durchqueren die Lobby, die Glastüren öffnen sich, ich pralle gegen eine Wand aus Hitze. Er geht über die Straße, einfach so, ohne nach rechts und links zu sehen. Ein Auto hupt, er beachtet es nicht. Zum Glück ist das Restaurant gleich auf der anderen Straßenseite. Weiter könnte ich bei dieser Temperatur nicht gehen.
Es ist ein elegantes Lokaclass="underline" Leintücher auf den Tischen, Lampen in Form von Glastropfen, Kellner in schwarzen Hemden und gottlob eine Klimaanlage. Eric steuert auf einen kleinen Tisch zu, eingeklemmt zwischen anderen kleinen Tischen vor einer ledernen Sitzbank an der Wand. Keine gute Idee, aber wie kann ich ihm das erklären? Schon hat der Kellner den Tisch weggerückt, Eric tritt zur Seite, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf die Bank zu setzen, zwischen zwei Männer in Anzügen, die mich unfreundlich ansehen, die Missbilligung meiner Körperfülle ein wenig gemildert durch Respekt vor dem geistlichen Stand. Der Kellner rückt den Tisch wieder heran, Eric setzt sich mir gegenüber und sagt: «Das Übliche.» Der Kellner eilt davon, bevor ich widersprechen kann. Wie kommt Eric dazu, für mich auszusuchen?
Er blickt auf sein Telefon, tippt, legt es weg und blickt über meinen Kopf hinweg an die Wand. Dann nimmt er wieder das Telefon.
«Was macht die Wirtschaft?», frage ich.
«Wie?» Er tippt und sieht nicht auf.
«Was macht die Wirtschaft? Hast du eine Prognose?»
«Prognose.» Er tippt. «Nein.»
Wie immer blicken mich von überall im Raum verstohlen Leute an. Ich bin daran gewöhnt. Sähen sie mich an der Spitze einer Prozession, sie fänden nichts dabei, und es würde ihnen auch nicht ungewöhnlich vorkommen, wenn ich im Fernsehen über moralische Fragen spräche. Aber dass ich einfach so im Restaurant sitze, ein Glas Wasser vor mir, mit einem Geschäftsmann, der ständig auf sein Telefon starrt, finden sie kurios. Viele von ihnen fühlen sich allein dadurch schon beruhigt, dass es unsereins noch gibt – dass wir noch über die Erde schreiten, Messen lesen, beten und uns verhalten, als hätte der Mensch eine Seele und als gäbe es Hoffnung. Selbst mir geht es so, wenn ich Priester sehe, die ich nicht kenne. Bei meinem Spiegelbild funktioniert es leider nicht.
Der Kellner bringt das Essen. Die Portionen sind noch kleiner, als ich befürchtet habe. Ein winziger Haufen muscheligen Teiggewirrs in der Mitte eines zum Großteil leeren Tellers.
Eric legt das Telefon weg. «Wenn du jemandem eine Nachricht schickst, und er antwortet, und du antwortest wieder und bittest um schnelle Antwort, und es kommt keine, würdest du dann davon ausgehen, dass er die Nachricht nicht bekommen hat oder dass sie einfach nicht antwortet?»
«Er oder sie?»
«Was?»
«Du hast einmal ‹er› und einmal ‹sie› gesagt.»
«Und?»
«Nichts.»
«Was hat das mit meiner Frage zu tun?»
«Nichts, aber –»
«Was willst du wissen?»
«Nichts!»
«Es ist völlig egal, was für eine Nachricht. Es spielt keine Rolle.»
«Das habe ich auch nicht gefragt.»
«Vielleicht gehört es ja zu deinem Beruf. Vielleicht müsst ihr so neugierig sein.»
«Aber ich bin nicht neugierig!»
Er starrt auf sein Telefon, tippt und beachtet mich nicht mehr. Das ist mir ganz recht, denn das Gericht erweist sich als so kompliziert, dass ich mich konzentrieren muss. Es ist wider alle Vernunft, dass man Nudeln nicht zerschneiden darf. Ein Gebot von gleichsam religiöser Kraft. Nudeln zerschneiden, das wäre ein Fehltritt ungeheuren Ausmaßes. Warum? Keiner weiß es. Und die Muscheln? Man muss jede einzelne Schale aufbrechen und dann das winzige, völlig geschmacklose Stückchen herauslösen. Mit den Fingern geht es schlecht, mit der Gabel noch schlechter.