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Wir gingen schweigend. Ampeln blinkten, Autos hupten, und ich hörte die Wortfetzen vorbeigehender Menschen. Mir war, als wären all die Geräusche Teil einer Geheimsprache, als redete die Welt mit Hunderten Lauten auf mich ein, aber ich konnte mich nicht konzentrieren und verstand nichts.

«Ich werde eine Zeitlang in der Stadt sein», sagte er.

«Unter falschem Namen?»

«Ich bin nur ein bekannter Schriftsteller. Kein Mensch kennt bekannte Schriftsteller. Ich brauche keinen falschen Namen.»

«Was hast du gemacht all die Jahre?»

«Hast du meine Bücher gelesen?»

«Natürlich.»

«Dann weißt du es.»

«Und sonst?»

«Nichts. Ich habe sonst nichts gemacht. Darum ging es ja.»

«Ach darum ging es!»

«Du nimmst es mir übel?»

Ich antwortete nicht.

«Dass ich nicht da war? Nicht mit euch Sackhüpfen gespielt habe, nicht im Zoo mit dir gewesen bin, keine Elternsprechtage besucht, nicht auf dem Teppich herumgebalgt und dich nicht auf den Jahrmarkt eingeladen habe? Das nimmst du mir übel?»

«Was, wenn die Bücher nicht gut sind?»

Er sah mich von der Seite an.

«Was dann?», sagte ich. «Alles geopfert, und dann sind sie nicht gut? Was dann?»

«Dagegen gibt es keine Versicherung.»

Wieder gingen wir schweigend.

«Pflichten», sagte er nach einer Weile. «Wir erfinden sie nach Bedarf. Niemand hat sie, es sei denn, er entscheidet, dass er sie hat. Aber ich liebe euch sehr. Alle drei.»

«Trotzdem wolltest du nicht bei uns sein.»

«Ich glaube nicht, dass ihr viel versäumt habt. Wir werden über alles sprechen. Das Hotel gegenüber vom Bahnhof, komm heute Abend, Iwan wird auch da sein.»

«Und Eric?»

«Er möchte mich nicht sehen. Komm um acht zum Essen. Ich vermute, du isst gerne.»

Ich wollte fragen, was ihm das Recht zu so einer Bemerkung gab, aber das war schon sein Abschied gewesen. Er winkte, ein Taxi hielt, er stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu.

An diesem Abend saßen wir viele Stunden zusammen. Iwan sprach von dem Moment, als er begriffen hatte, dass er nie ein großer Maler werden würde, und Arthur erzählte von seiner Idee, ein Buch zu schreiben, das nichts als eine Botschaft an einen einzigen Menschen sei, in dem also alle Kunst nur der Camouflage diene, damit keiner außer diesem einen es merken könne, was jedoch das Buch paradoxerweise zu einem Werk der hohen literarischen Kunst machen werde. Gefragt, was denn die Botschaft sein solle, sagte er, das hänge vom Empfänger ab, und gefragt, wer der Empfänger sein solle, sagte er, das hänge ab von der Botschaft. Gegen Mitternacht berichtete Iwan davon, wie sein Verdacht, dass er homosexuell sei, sich in seinem neunzehnten Lebensjahr ohne Schrecken oder Erschütterung bestätigt hatte, was er aber Eric nie habe erzählen können, aus Sorge, dieser würde ob ihrer Ähnlichkeit an sich selbst irrewerden. Um ein Uhr war ich kurz davor zu gestehen, dass ich nicht an Gott glaubte, tat es aber doch nicht und sprach stattdessen von Karl-Eugen Immermann, dem dreizehnjährigen Jungen, der bei jedem Wettbewerb genau drei Sekunden schneller war als ich, ich hatte einfach keine Chance gegen ihn. Um halb zwei sagte Arthur, dass er sich damit abgefunden habe, mit Schuld und Reue leben zu müssen wie andere mit einem steifen Fuß oder chronischem Rückenschmerz, gegen zwei Uhr weinte ich ein wenig, um halb drei verabschiedeten wir uns und versprachen einander, uns am nächsten Abend wieder zu treffen.

Als wir tags darauf ins Hotel kamen, war Arthur abgereist. Er hatte weder eine Adresse noch eine Nachricht hinterlassen. Ein paar Wochen rechnete ich täglich damit, dass er sich melden und alles erklären würde. Dann gab ich das Warten auf.

Ein fensterloser Raum im Keller des bischöflichen Palais. Es riecht nicht gut, und es gibt keine Klimaanlage. Linoleum auf dem Fußboden, weiß gestrichene Wände, die Decke beklebt mit schalldichtem Kunststoff, an der Wand das vorgeschriebene Kruzifix. Ein Tischtennistisch, ein Fußballtisch, zwei alte Computer, zwei PlayStations und eine Horde Halbwüchsiger, die wissen, dass sie nur die Anwesenheit von zwei Priestern in Kauf nehmen müssen, damit ihnen all dies gratis zur Verfügung steht. Auch die Getränke kosten nichts. Zu meinem Beruf gehören vielfältige Pflichten. Dürfte ich auf eine davon verzichten, so würde ich diese aussuchen: das Treffen der Katholischen Jugend.

Neben mir steht Pater Tauler, ein hagerer Jesuit. Er reibt sich die Augen und seufzt.

«Es dauert nicht lange!», sage ich.

«Eine Stunde.»

«Die geht vorbei.»

«Meinst du?»

«Sie muss ja.»

Er seufzt wieder. «Übrigens, dein Freund Finckenstein ist hier.»

«Ach!»

«Oben im Palais. Geradewegs aus Rom.»

Pater Tauler geht zu einem der abgewetzten Stühle. Er lässt sich darauf nieder, sofort kommen zwei Mädchen auf ihn zu, setzen sich zu ihm und beginnen, leise mit ihm zu sprechen. Die eine ist aufgeregt, ihre Augen glänzen, die andere legt ihr dann und wann den Arm um die Schultern.

Unbestimmt lächelnd bewege ich mich auf den anderen Stuhl zu. Ich schwitze stark, und ich hätte gern ein Getränk aus dem Automaten. Aber das ist nicht möglich. Ich kann hier nicht Coca-Cola aus der Flasche trinken, ich muss einen Rest Würde bewahren. Wäre ich schlank, es wäre kein Problem. Aber bei mir geht es nicht.

Ich setze mich und warte. Vielleicht will ja niemand etwas von mir. Zwei Jungen spielen Tischfußball, mit zornigen Bewegungen lassen sie den Ball hin und her schnellen, hinter ihnen springen drei Mädchen um den Tischtennistisch, sie sind wirklich gut, ich kann den Ball kaum sehen. Die PlayStations quietschen und pfeifen, es riecht nach Schweiß. Ein Mädchen geht auf mich zu, ich erschrecke, aber zum Glück biegt es ab in Richtung der Computer. Am schlimmsten ist es, wenn Mädchen zu mir kommen, weil sie schwanger sind. Ich weiß, was ich ihnen zu sagen habe, die Regeln sind strikt, aber in Wahrheit bin ich ratlos. Leichter ist es bei Glaubenszweifeln. Da muss ich nicht nachdenken, da spreche ich einfach vom Mysterium. Leider sind Glaubenszweifel aus der Mode gekommen.

Ich schließe die Augen. Ausgerechnet Finckenstein! Ich werde ihn wohl begrüßen müssen, er weiß, dass ich hier bin, es würde seltsam aussehen. Und ich sollte ihn nicht meiden, man darf dem Neid keinen Raum geben.

Ich öffne die Augen. Jemand hat mir ans Knie geklopft. Ein junger Mann sitzt vor mir. Ich kenne ihn, er ist oft hier, und er heißt … Das habe ich vergessen. Könnte ich mir Namen besser merken, wüsste ich, wie er heißt. Er hat schon Bartstoppeln, er trägt eine blaue Schirmkappe mit den Buchstaben N und Y, und sein rechter Nasenflügel ist durchbohrt von einem dünnen Ring. Auf seinem T-Shirt steht bubbletea is not a drink I like. Seine Jeans sind zerrissen, aber es sind solche, die man zerrissen kauft. Sein Gesicht ist bleich, vermutlich sieht man deshalb so deutlich die Stoppeln. Er starrt mich aus leicht entzündeten Augen an.

«Ja?», sage ich.

Er räuspert sich, dann beginnt er zu sprechen. Ich beuge mich vor. Er redet zu leise und zu schnell, ich verstehe ihn nicht gut.

«Moment. Bitte langsamer.»

Er blickt auf seine Turnschuhe, räuspert sich erneut, fängt von vorne an. Allmählich verstehe ich. Es hat eine Schlägerei gegeben, und auch ein Schmetterling spielt eine Rolle. Butterfly sagt er immer wieder und macht Flatterbewegungen mit der Hand, so und so und so: Butterfly.

Schmetterling …? Mir kommt ein Verdacht.

Ja, sagt er. Ein Messer, ein Butterfly. So mache man es auf, so steche man zu, ganz schnell sei es gegangen.

«Moment. Noch einmal.»

Seufzend, schwitzend erzählt er. Manches verstehe ich nicht, aber das Wesentliche bekomme ich mit. Er und zwei Freunde namens Ron und Carsten hätten vor zwei Nächten Streit gehabt, in einer Diskothek, mit jemandem namens Ron; die Namensgleichheit sei ein Zufall und habe nichts zu bedeuten. Was es schwieriger macht, ist allerdings, dass der Junge vor mir, jetzt fällt es mir wieder ein, ebenfalls Ron heißt. Also: Er, Ron und Carsten hätten Streit mit Ron gehabt, aus Gründen, an die keiner sich mehr erinnern könne, womöglich sei es um Geld gegangen, vielleicht um ein Mädchen oder auch um nichts, es gebe schließlich immer wieder mal Streit um nichts, aber wenn dann einer zugeschlagen habe, sei nicht mehr der Grund dafür wichtig, sondern nur noch der Umstand, dass einer zugeschlagen habe.