«Hast du in letzter Zeit Kalm gesehen?», frage ich.
«Immer noch der Gleiche. Er ist bald Bischof, wenn Gott will.»
«Er wird wollen.»
«Ich denke auch. Er wird wollen.»
«Glaubst du an Gott?»
Er bleibt stehen. «Martin, ich bin stellvertretender Chefredakteur von Radio Vatikan!»
«Und?»
«Du fragst den stellvertretenden Chefredakteur von Radio Vatikan, ob er an Gott glaubt?»
«Ja.»
«Ernsthaft?»
«Nein. Aber wenn ich ernsthaft fragen würde, was würdest du sagen?»
«Ich würde sagen, die Frage stellt sich so nicht.»
«Warum?»
«Gott ist ein sich selbst realisierender Begriff, eine causa sui, weil sie denkbar ist. Ich kann ihn denken, und weil er denkbar ist, muss es ihn geben, alles andere wäre ein Widerspruch, also weiß ich, dass es ihn auch dann gibt, wenn ich nicht an ihn glaube. Und deshalb glaube ich. Und vergiss nicht, wir realisieren seine Existenz durch tätige Menschenliebe. Wir machen unsere Arbeit. Durch uns wird er wirklich, aber wir können ihn nur wirklich werden lassen, weil er sein muss. Wie kann man Menschen lieben, wenn man in ihnen nicht Gottes Geschöpfe sieht, sondern etwas Zufälliges: Flechten, die Karriere gemacht haben, Säugetiere mit Verdauung und Rückenschmerzen? Wie soll man Mitleid haben mit ihnen? Wie die Welt lieben, wenn sie nicht gewollt wird von dem, der der gute Wille selbst ist?»
Ron fällt mir wieder ein, das ist wichtiger, darüber sollte ich sprechen. Aber etwas hält mich ab, mir ist, als hätte ich etwas Größeres und Bösartigeres berührt, als ich es in diesem Moment verstehen kann; mir ist, als wäre es besser, die Sache zu vergessen.
«Und was heißt schon ‹glauben›! Der Begriff ist logisch verschwommen, Martin. Wenn du dir eines Satzes sicher bist, dann weißt du ihn doch. Wenn du meinst, dass etwas sein könnte, aber gleichzeitig weißt, es ist vielleicht nicht so, dann nennst du das Glaube. Es ist eine Spekulation über Wahrscheinlichkeit. Glauben heißt: annehmen, dass es wahrscheinlich so ist, obwohl es auch nicht so sein könnte. Nicht glauben heißt: annehmen, dass es wahrscheinlich nicht so ist, auch wenn es durchaus so sein könnte. Ist der Unterschied wirklich groß? Das ist sehr vage, das sind Abstufungen. Wichtig ist, dass wir unsere Arbeit machen.»
Stufe um Stufe gehen wir hinauf. Unsere Schritte hallen durchs Treppenhaus.
«Hast du im Ernst gefragt?»
«Ich war nur neugierig.»
«Und was glaubst du?»
«Ich glaube, ich sollte auch in Rom sein.»
«Ja, gerecht ist das nicht. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.»
Wir erreichen den ersten Stock. Eine Heiligenstatue mit würdevoll gefalteten Händen sieht uns an.
«Welche Frage?»
«Die Frage, was denn du selbst glaubst.»
Ich bleibe stehen, stütze mich aufs Geländer und warte darauf, dass mein Herzschlag sich beruhigt. «Ich glaube, dass wir bald essen sollten.»
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Familie
Man meint, die Verstorbenen wären irgendwo aufbewahrt. Man meint, dem Universum blieben ihre Spuren eingeschrieben. Aber das stimmt nicht. Was dahin ist, ist dahin. Was war, wird vergessen, und was vergessen ist, kommt nicht zurück. Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater.
Er schrieb Gedichte. Ich habe keines gelesen. Er schrieb sie auf kleine Zettel, er schrieb sie an den unteren Rand von Speisekarten und auf Briefkuverts, achtlos und aus Vergnügen. Manche nahm er mit, andere ließ er liegen, ihm fielen ständig neue ein, und er wusste, es war nur ein Anfang.
Auf der Universität erst hatte er erfahren, dass er Jude war, bis dahin hatte er gedacht, so etwas hätte nicht mehr Bedeutung als ein Sternzeichen. Seine Mutter war Jüdin, obwohl sie an nichts glaubte, ihr Großvater war ein Händler mit langem Bart aus der Bukowina gewesen.
Nie ging er zu den Vorlesungen. Ein Mädchen, das er durch gemeinsame Freunde kennengelernt hatte, erklärte sich bereit, ihn zu heiraten. Eines Nachmittags sah er einen Aufmarsch, Männer schwenkten Fäuste und Fahnen, er wollte es sich näher ansehen, aber ein Kommilitone zog ihn am Ärmel und sagte, sie sollten besser verschwinden. Ihm kam es albern vor. Sein Vater war im Krieg gefallen, er war der Sohn eines Helden, was konnte passieren?
Als ich geboren wurde, arbeitete er in einer Fabrik, man hatte ihn von der Universität relegiert. In der Fabrik wurden Metalldinge hergestellt, wofür sie gebraucht wurden, wusste er nicht. Einmal nahmen zwei Arbeiter ihn zur Seite: Sie wüssten, dass er Saboteur sei, aber er brauche keine Angst zu haben, sie würden ihn decken. Als er verblüfft antwortete, er habe in der Fabrik immer sein Bestes gegeben, sagten sie lachend, sie glaubten kein Wort, so ungeschickt könne niemand sein. An diesem Tag, auf dem Heimweg, komponierte er im Kopf ein Gedicht über die dröhnenden Propeller eines Flugzeugs, dessen Pilot für einen Moment eingenickt ist und von einer Ameise träumt, die einen Halm emporklettert, der im Wind zittert, in dem noch das ferne Dröhnen eines Flugzeugs schwingt. Nicht schlecht, dachte er, das hat Rhythmus und Einfachheit, wenn das so weitergeht, kann man bald etwas drucken lassen. Daheim erwartete ihn ein Behördenbrief, der ihn in kühlem Ton aufforderte, sich am Bahnhof einzufinden, mit Kleidern zum Wechseln und einer Decke.
Fahrt besser in die Schweiz, sagte er meiner Mutter. Sobald es geht, komme ich nach. Es gibt da einen Beamten, der war ein Bewunderer meines Großvaters, er hat ihn als Karl Moor gesehen, er wird helfen.
Zunächst wollte sie nicht, aber er redete ihr zu. Allzu schlimm könne es nicht werden. Er habe doch bisher immer Glück gehabt.
Ich weiß nicht, wie er aussah. Kein Foto zeigt sein Gesicht.
Der Vater meines Vaters wurde nicht einmal zwanzig, dabei hatte er das erste Kriegsjahr überlebt. Tausende Stunden in aufgewühltem Lehm, Stacheldraht, Granaten, das Pfeifen in der Luft, die Splitter. Als er im Fronturlaub seine Frau und den winzigen Sohn sah, kamen sie ihm wie Fremde vor. Er überlebte ein weiteres Jahr. Inzwischen war er so gewöhnt an den Gedanken, dass er sterben würde, dass er nicht mehr glaubte, es könne tatsächlich passieren. Aber dann traf ihn doch eine Kugel, Stiefel traten auf ihn, und aus reiner Gewohnheit überlegte er, wie er wohl diesmal entkommen werde. Er erstickte am Dreck und kam nie zurück.
Der Großvater meines Vaters lebte fürs Theater und bekam nie die richtigen Rollen. Nicht Hamlet, sondern Güldenstern, nicht Marc Anton, sondern Cicero, nicht Franz, sondern Karl Moor. Seinen zwei Söhnen und zwei Töchtern beschrieb er ausführlich, welche Opfer die Kunst fordere, aber keines der Kinder war begabt. Die Jahre vergingen, nun hoffte er auf König Lear und Prospero. Sein älterer Sohn starb an der Spanischen Grippe, sein jüngerer heiratete ein jüdisches Mädchen, das war ihm nicht angenehm, aber er hatte auch nicht die Kraft, es zu verhindern. Die ältere Tochter heiratete einen Lehrer, die jüngere blieb missmutig im Haus und kochte für ihn und seine Frau.
Er sah seinen ersten Film. Bleiche Figuren tummelten sich auf einer weißen Wand. Er verstand nicht, worüber die Leute lachten, er sah nur Untote, und der Gedanke, dass man bald Menschen dabei würde zusehen können, wie sie einander Kuchen ins Gesicht warfen, lange nachdem sie gestorben waren, kam ihm entsetzlich vor. Ein kleiner Mann mit Schnurrbart, ein riesenhafter Dicker, ein Clown mit grotesk nach unten gezogenem Mund. Die Welt geht unter, dachte er. Eine Weile mag sie noch bestehen, aber es ist alles Täuschung, wie diese Bilder.
Von diesem Tag an stand er nicht mehr auf. Sogar der Ausbruch des Krieges war ihm gleichgültig. Als sein Sohn kam, in Uniform, um sich zu verabschieden, brachte er es fertig, so würdevoll auszusehen, wie der Anlass es erforderte. Er war ja nicht umsonst Schauspieler.