Der Urgroßvater meines Vaters war Arzt gewesen, wenn auch kein guter. Er hatte nur Medizin studiert, weil auch sein Vater Arzt gewesen war. Er betrieb eine kleine Praxis, viele Kranke starben ihm, manche konnte seine Frau behandeln, die klüger war als er. Oft wusste sie, welche Kuren halfen. Dann starb sie ihm auch. Damit sich jemand um die Kinder kümmerte, heiratete er ein zweites Mal. Die neue Frau machte ihn traurig, und noch mehr Kranke starben.
Wann immer er Gelegenheit dazu bekam, erzählte er, dass er als junger Mann Napoleon begegnet sei. In Wirklichkeit hatte er nur einen gebauschten Mantel über einem Pferderücken gesehen, dazu eine Hand in weißem Handschuh. Als er sich endlich zur Ruhe setzen durfte, kam es ihm vor, als hätte der große Feldherr weniger Menschen getötet als er, der schlechte Arzt. Dann starb auch seine zweite Frau. In seinen letzten Lebensjahren war er vollkommen glücklich.
Der Vater des Arztes, ein Arzt auch er, hatte das Talent, die Kranken zu beruhigen, indem er mit ihnen sprach. Meist ahnte er, woran einer litt. Er beschäftigte sich mit den Experimenten Mesmers und lernte, einen Leidenden in den magnetischen Schlaf zu versetzen. Als sein Sohn ebenfalls Arzt wurde, war er froh. Seine Tochter hätte auch gern studiert, sie war klug und begabt, aber er musste es verbieten. Zum Ausgleich fand er ihr einen braven Mann, der gut arbeitete und sie nicht schlug. Mit sechzig Jahren legte er sich ins Bett, atmete aus und kam nie zurück.
Seinen Vater kostete ein Streifschuss die Hand. Er hatte dunkle Haut, keiner wusste, warum, die Mutter hatte ihn allein aufgezogen, irgendwo in Armut. Er wurde Soldat, weil die Werber dachten, dass ein schwarzer Mann stärker sei als ein Weißer. Er marschierte viel, wurde manchmal befördert, zeugte zwischendurch drei Kinder, alle weiß. Schließlich traf eine Kugel seinen Hals, er erstickte am Blut und kam nie zurück.
Sein Vater war nach England gegangen, für die Überfahrt hatte er sich als Schiffsjunge verdingt. Er sparte ein wenig, er versuchte sich als Kaufmann, aber er hatte nicht viel Glück. Einmal kam er mit einem jungen Franzosen ins Gespräch, der die Börse von London besuchte, um darüber zu schreiben. Schwächlich und dürr war der, aber klug, blitzschnell in den Augen und von einer Geisteskraft, wie er sie noch nie erlebt hatte. Wenn man so wäre, dachte er, alles könnte man schaffen, Dinge wären nicht so schwer, die Welt nicht so voll Widerstand. Zum Abschied fragte er den Fremden nach seinem Namen. Arouet, sagte der und war schon weitergegangen, denn der Mann hatte ihn gelangweilt.
Von dieser Begegnung erholte er sich nie. Er war müde. Er brachte es noch fertig, nahe der Fleet Street ein kleines Geschäft für Krüge, Schüsseln und Krimskrams aufzumachen, eine Frau zu heiraten, die ihm nicht gefiel, und ein Kind zu zeugen; ihm schien, als wäre die Kraft dazu schon nicht mehr aus ihm selbst gekommen, sondern von dem Sohn, der unbedingt in die Welt wollte. Als es geboren war, hatte das Kind dunkle Haut, aber er selbst war doch weiß wie Schnee, und seine Frau war es auch, also hatte sie ihn betrogen. Er schrie, sie weinte, er brüllte, sie schwor, er rief den Herrgott an, sie tat es auch, mit letzter Kraft verstieß er sie. Da schmerzte sein Magen schon sehr, einen Monat später war er tot und kam nie zurück.
Sein Vater fuhr zur See. Die Traurigkeit seiner Ahnen war stark in ihm. Im Hafen von Hamburg lag er mit einer Frau im Bett, er wusste ihren Namen nicht und sie nicht seinen, ja eigentlich mochte er gar keine Frauen, aber sie sah aus wie ein Mann, das half. Er heuerte als Küchenmatrose auf einem Schiff an, das nach Indien sollte, doch es sank schon drei Wochen nach dem Ablegen. Fische, so fremd, wie er sie sich nie hätte vorstellen können, fraßen sein Fleisch, seine Knochen wurden zu Korallen, die Haare zu Seegras, seine Augen zu Perlen.
Sein Vater hatte dunkle Haut. Er war der Sohn eines Gutsherrn und einer Magd aus Trinidad, schwarz wie die Mitternacht. Niemand kümmerte sich um ihn, während er heranwuchs, vielleicht war das sein Glück, aber als er fünfzehn war, steckte sein Vater ihm Geld zu, und er brach auf. Er wusste nicht, wohin, ein Ort schien wie der andere, und Pläne hatte er nicht. Zeit, dachte er, während er den Kopf ans Fenster der Postkutsche lehnte, reine Täuschung. Vor ihm waren andere über diese Hügel gefahren, nach ihm würden andere kommen, aber es blieben dieselben Hügel, derselbe Himmel und derselbe Erdboden. Im Grunde waren es auch dieselben Pferde, wo lag der Unterschied? Und bei den Menschen, dachte er, sind die Unterschiede auch nicht groß. Wie, wenn wir immer derselbe sind, in immer anderen Träumen? Nur die Namen täuschen uns. Lass sie beiseite, und du siehst es sofort.
In einem kleinen Dorf ließ er sich nieder. Die Menschen fanden es wunderlich, dass er schwarz war, sie hatten so einen noch nie gesehen. Zunächst beschlug er Pferde, dann heilte er sie, er hatte ein Gespür dafür, wo es sie schmerzte. Ein Segen lag auf ihm. Die Tiere hatten Vertrauen, und die Menschen hassten ihn nicht. Er heiratete und zeugte sieben Kinder, manche starben bei der Geburt, andere überlebten, zu seiner Überraschung waren sie alle weiß. Gott schickt uns auf seltsame Wege, sagte er zu seiner Frau, und wir müssen sie gehen, ohne zu klagen.
So wurde er alt. Er war zufrieden, als Erster in der Reihe seiner Ahnen. Eines regnerischen Nachmittags sank er vor dem Haus in die Knie, blickte neugierig um sich, schloss die Augen, legte den Kopf hin, als ob er an der Erde horchen wollte, und kam nie zurück.
Sein Vater, der Gutsherr, war ein Alchimist, der es nie fertigbrachte, Gold zu machen, aber das war nicht erstaunlich, denn es brachte auch kein anderer fertig. Er hauste in einem zugigen Herrenhaus, zeugte mehr als ein Dutzend Kinder mit den Mägden, darunter eine Schwarze aus Trinidad, die zaubern und heilen konnte, heiratete nie und dachte viel darüber nach, ob er katholisch oder protestantisch sein wollte. Die Schwarze hingegen dachte oft an den Ort, von dem sie kam: Sie erinnerte sich an Wärme, sie erinnerte sich an Regen, der leicht war wie die Luft, sie erinnerte sich an eine Sonne, die Kraft hatte, und sie erinnerte sich an duftende Pflanzen. Sie pflegte ihren dunklen Sohn, sie küsste und drückte ihn an sich, wann immer es möglich war, und das war es nicht oft, denn sie musste hart arbeiten, und als er sich schließlich auf den Weg machte, wusste sie, dass er nicht zurückkommen würde.
Den Gutsherrn plagten unterdessen die Zähne. Einer nach dem anderen fielen sie aus, manchmal brachten die Schmerzen ihn schier zum Wahnsinn. Eines lehmigen Morgens wurde ihm von einem Abszess im Kiefer so schlecht, dass er sich zu Bett legen musste. Jemand, den er schon nicht mehr erkannte, presste ihm Kräuter ins Gesicht, sie rochen stechend, eine halbe Stunde später starb er an vergiftetem Blut und kam nie zurück.
Seinen Vater machte der größte Krieg groß. Bei Lüttich verlor er drei Finger, vor Antwerpen ein Ohr, bei Prag eine Hand, wenn auch leider nicht jene, der schon die Finger fehlten. Aber er war geschickt im Plündern, er wusste, wo Gold zu finden war, und als er genug beisammen hatte, verließ er den schwedischen Dienst und kaufte ein Gutshaus. Er heiratete, zeugte drei Kinder und wurde kurz darauf von Marodeuren umgebracht. Es war eine langwierige Angelegenheit, denn sie wollten Verschiedenes an ihm ausprobieren, seine Frau versteckte sich unterdessen mit den Kindern im Keller. Als die Eindringlinge fort waren, war er noch am Leben, aber die Seinen erkannten ihn kaum mehr; es dauerte zwei Tage, bis er starb. Er kam zurück. Noch heute sieht man nachts jemanden, der wohl sein Geist ist, mit müdem Ausdruck durchs Haus streifen.
Seine Mutter war eine ungewöhnliche Frau. Sie hatte starke Träume, und manchmal war ihr, als könnte sie die Zukunft sehen oder Dinge, die in der Ferne geschahen. Wäre sie ein Mann gewesen, viele Wege hätten ihr offengestanden, und sie hätte ein Schicksal gehabt. Eines Nachts träumte sie von einem einäugigen und einbeinigen Alten, versteckt in einem Schuppen. Er spürte, wie sein Körper starr wurde, er spürte eine kalte Hand an seinem Hals, und er lachte, als wäre ihm etwas so Interessantes noch nie zugestoßen. Aber bevor er starb, war sie aufgewacht.