Sein Vater war der Sohn eines Söldners, der sich eine Frau genommen hatte, die ihn nicht wollte, am Wegesrand, im Feld. In seiner Umklammerung hatte sie begriffen, dass Gott ihr nicht helfen würde, weil die Hölle nicht später kam, sondern jetzt war und hier. Plötzlich merkte der Söldner, dass es falsch war, also ließ er sie los, aber es war schon zu spät, und er rannte und vergaß. Das Kind ließ sie gleich nach der Geburt im Pferdestall, dann vergaß sie es auch.
Aber der Junge überlebte. Er überlebte den Pesthauch, der durchs Land zog, er überlebte Schmerz und Typhus, er wollte nicht sterben, auch wenn gar nichts dafür sprach, dass er lebte, es gab kaum Essen, aber er starb nicht, alles war voll Kot und Fliegen, aber er starb nicht, und wäre er gestorben, gäbe es weder mich noch meine Söhne. An unserer Stelle würden andere, die es nun nicht gibt, ihr Dasein für unausweichlich halten.
Er wuchs heran, wurde Schmied, fand eine Frau, eröffnete einen kleinen Laden, den kurz darauf das Feuer vernichtete, und arbeitete als Pferdeknecht. Er zeugte acht Kinder, von denen drei überlebten. Bald danach wurde er von einem Fuhrwerk überrollt, verlor ein Bein, starb aber immer noch nicht, obwohl der Wundbrand ihm den Schädel verwirrte. Er träumte, dass der Teufel zu ihm kam, er bat ihn um ein langes Leben, der Teufel fuhr zurück in die Hölle, nach kurzer Zeit ließ das Fieber nach.
Eines Morgens, Wochen später oder vielleicht auch Jahre, wachte er auf und erinnerte sich verschwommen an Karten, Wein und offene Messer. Viel wusste er nicht mehr von der Nacht zuvor, die Welt schien schmaler geworden, ein Stück fehlte, und als er an der Nase emportastete, in Richtung des Schmerzes, kam er dahinter, dass ein Auge fehlte. Kurz war er erschrocken, doch dann lachte er. Welch guter Zufall, dass ihm bloß das passiert war und nichts Schlimmeres, denn der Augen hatte man zwei. Ein Herz nur, einen Magen, eine Lunge, aber zwei Augen! Hart war das Leben, doch manchmal hatte man Glück.
[zur Inhaltsübersicht]
Geschäfte
Schon eine Zeitlang höre ich es schluchzen. Eben noch war es ein Geräusch in meinem Traum, aber jetzt ist der Traum vorbei, und das Schluchzen kommt von der Frau neben mir. Die Augen geschlossen, weiß ich, dass ich es bin, der weiß, dass die Stimme nun die von Laura ist oder eigentlich: dass es nun auf einmal die ganze Zeit schon ihre Stimme war. So heftig weint sie, dass die Matratze bebt. Ich liege reglos. Wie lange kann ich mich schlafend stellen? Ich würde so gern nachgeben und wieder versinken, aber es geht nicht. Der Tag hat angefangen. Ich öffne die Augen.
Morgensonne dringt durch die Schlitze der Jalousie und zeichnet dünne Linien auf Teppich und Wand. Das Teppichmuster ist symmetrisch, aber sieht man es zu lange an, fesselt es die Aufmerksamkeit, hakt sich fest und lässt einen nicht mehr los. Laura liegt in völliger Ruhe neben mir, atmet lautlos, schläft tief. Ich schlage die Decke zurück und stehe auf.
Während ich durch den Flur tappe, kehrt die Erinnerung an den Traum zurück. Kein Zweifel, es war Großmutter. Müde sah sie aus, abgekämpft und nicht ganz vollständig, als hätte nur ein Teil ihrer Seele es geschafft, bis zu mir vorzudringen. Schief stand sie vor mir, gestützt auf einen Krückstock, und in ihrem Haarknoten steckten zwei Kugelschreiber. Sie öffnete und schloss den Mund, mit den Händen machte sie Zeichen, etwas wollte sie mir unbedingt sagen. Unendlich müde sah sie aus, die Lippen gespitzt, die Augen flehend, bis im nächsten Moment irgendeine Traumverwandlung sie wegspülte und ich anderswo war, umgeben von anderem. Nie werde ich erfahren, was sie mir mitteilen wollte.
Ich rasiere mich, steige in die Dusche und drehe am Heißwasserhahn. Das Wasser ist warm, dann heiß, dann sehr heiß, so mag ich es. Ich beuge den Hals nach hinten, lasse das Wasser auf mich prasseln, höre dem Rauschen zu, spüre den Schmerz und vergesse für einen Moment alles.
Es währt nicht lange. Schon kommt wie eine Welle die Erinnerung zurück. Vielleicht kann ich noch zwei Monate durchhalten, vielleicht sogar drei. Aber länger nicht.
Ich stelle das Wasser ab, steige aus der Dusche und drücke das Gesicht ins Frottee des Handtuchs. Wie immer reagiert mein Gedächtnis auf den Geruch, indem es Bilder herbeiruft: Eingewickelt ins Handtuch werde ich von Mama ins Bett gebracht, Papas hohe Gestalt vor der Deckenlampe, seine wirren Haare nachgezeichnet vom Gegenlicht, Iwan ist schon eingeschlafen im Bett daneben; unser Sandkasten, in dem ich immer die Türme umwarf, die er aufgebaut hatte; eine Wiese, er hatte einen Regenwurm gefunden, ich riss ihn entzwei, er weinte furchtbar. Oder war es umgekehrt? Ich ziehe den Bademantel an. Jetzt brauche ich meine Medikamente.
In meinem Arbeitszimmer ist alles beim Alten. Das beruhigt mich. Der Schreibtisch mit dem großen Bildschirm, der Paul Klee an der einen Wand, der Eulenböck an der anderen, die leeren Aktenordner. Ich habe hier nie gearbeitet. Auch die Schubladen sind leer, und von den Nachschlagewerken wurde kein einziger Band je geöffnet. Aber wenn ich hier sitze und mich versunken stelle, kommt keiner herein, und das allein zählt.
Zwei Thropren, ein Torbit, ein Prevoxal und ein Valium – ich darf den Tag nicht mit zu viel beginnen, schließlich muss ich die Dosis erhöhen können, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Ich schlucke sie alle auf einmal; das ist unangenehm, und ich biete meine ganze Willenskraft auf, um gegen den Würgreflex anzukämpfen. Warum ich sie immer ohne Wasser nehme, weiß ich nicht.
Schon spüre ich, wie sie wirken. Wahrscheinlich ist es Einbildung, es kann nicht so schnell gehen, aber ist das wichtig? Wattige Gleichgültigkeit legt sich auf mich. So lässt es sich weitermachen. Eines Tages verlierst du alles, man wird den Namen Eric Friedland mit Abscheu nennen, wer dir jetzt noch vertraut, wird dich verfluchen, deine Familie wird zerfallen, und dich sperrt man ein. Aber noch nicht heute.
Nie darf ich jemandem sagen, wie sehr ich diesen Paul Klee hasse. Schiefe Karos, rot auf schwarzem Untergrund, daneben ein windschiefes, rundum erbärmliches Strichmännchen. Auch ich hätte das malen können. Ich weiß, dass ich diesen Satz nicht denken soll, er ist streng verboten, aber ich kann mir nicht helfen, auch ich hätte das malen können, keine fünf Minuten hätte ich gebraucht! Stattdessen habe ich siebenhundertfünfzigtausend Euro dafür bezahlt, aber ein Mann in meiner Position muss nun mal ein sehr teures Gemälde besitzen: Janke hat einen Kandinsky, Nettelbeck von BMW hat einen Monet, vielleicht ist es auch ein Manet, was weiß ich, und der alte Rebke, mit dem ich Golf spiele, hat einen Richard Serra auf dem Rasen, groß, rostig und bei den Gartenpartys sehr im Weg. Und so habe ich Iwan vor Jahren gebeten, mir auch ein Bild zu besorgen, nur sicher solle es sein.
Prompt hat er so getan, als würde er mich nicht verstehen. Das macht er gern, das macht ihm Spaß. Was denn das heißen solle, sicher?
«Sicher heißt, dass es jeden beeindruckt. Dass kein Fachmann etwas gegen den Maler hat. Wie bei Picasso. Oder Leonardo. Einer von diesen Leuten.»
Da hat er mich ausgelacht. Auch das macht er gern. Picasso? Es gebe Hunderte Fachleute, die Picasso nicht ernst nähmen, und erwische man die falsche Phase, sei man sowieso blamiert. Kaum einer sage zum Beispiel etwas Gutes über sein Spätwerk! Aber Paul Klee, den könne man nehmen, gegen den habe keiner was.
«Und Leonardo?»
«Gibt es nicht auf dem Markt. Nimm Klee.»
Dann war er für mich bei der Versteigerung. Bei fünfhunderttausend hat er angerufen, um zu fragen, ob er höhergehen soll. Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt. Aber hätte er denken sollen, ich kann mir nicht einmal ein Strichmännchen leisten? Eine Weile hing es im Salon, dann mochte Laura es plötzlich nicht mehr. Also hängt es seither über meinem Schreibtisch, sieht mich aufdringlich an und stiftet Schaden in meinen Träumen. Ich kann es nicht verkaufen, zu viele Leute haben es im Salon gesehen, wo ich ja immer darauf hingewiesen habe, sehen Sie meinen Klee, was sagen Sie zu meinem Klee, ja natürlich ist er echt! Sobald sich die Fahnder an die Arbeit machen, wird eine ihrer ersten Fragen sein, wo denn der Klee geblieben sei. Die Kunst ist eine Falle, sonst nichts, schlau ausgedacht von Menschen wie meinem Bruder!