Sie tritt einen Schritt zurück, um sich Raum für die Antwort zu nehmen.
Wie schön sie noch immer ist! Ich nicke und sage: «Aha», und: «Ach», während sie von einer Reise und einem Zauberer und einem Rosenbeet erzählt, Abertausende Rosen, ein weites Meer. Kann man wirklich so etwas träumen? Vielleicht erfindet sie es ja auch, so wie ich fast alles erfinde, was ich erzähle.
«Hörst du mir zu?», fragt sie.
«Natürlich. Rosenbeet.»
Als sie weiterredet, schalte ich unauffällig mein Telefon ein: 8. August 2008, zweitausendsiebenhunderteinunddreißig ungelesene E-Mails. Und genau in dem Moment, da ich auf den Schirm blicke, kommen zwei hinzu.
«Interessiert dich das mehr als das, was ich sage?»
«Liebste!» Schnell stecke ich das Gerät ein. «Prinzessin! Gar nicht interessiert es mich! Sprich weiter.»
Das stimmt sogar, ich lese seit Wochen keine E-Mails mehr. Aber weil es die Wahrheit war, hält sie es für eine Lüge und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor.
«Laura! Bitte weiter! Bitte!»
Offenbar treffe ich heute nicht den richtigen Ton, denn ihre Stirn kräuselt sich vorwurfsvoll. «Marie braucht Nachhilfe in Mathematik. Du musst einen Lehrer finden. Herr Lakebrink sagt, es ist dringend.»
Das geht mir zu schnell. Gerade noch Rosen, jetzt dieser Lakebrink. «Ist das ihr Lehrer?»
Ihre Stirnfalten werden tiefer.
«Lakebrink», sage ich. «Ich weiß schon. Dieser Lakebrink. Dieser Mensch.»
Sie tritt noch einen Schritt zurück.
«Also gut, wer ist das?»
«Eric, was ist los mit dir?»
«Wollen wir wegfliegen?», frage ich hastig. «Nächstes Wochenende, nur du und ich …» Jetzt muss mir schnell ein scheußlich heißer Ort einfallen; wo waren wir neulich? «Nach Sizilien?» Es war Sizilien, da bin ich ziemlich sicher. Womöglich war es auch Griechenland. Feucht und warm wie in der Hölle, absurd hoch die Preise, frech tuschelnde Kellner sowie räudige Katzen, die böse von spitzen Felsen herabstarren, aber Laura war sehr glücklich.
Sie breitet die Arme aus, legt den Kopf an meine Brust, umschlingt mich. Ihr Haar duftet süßlich – ein wenig nach Salbei, ein wenig nach Zitrone, eigentlich riecht sie immer gut. Sie murmelt, dass ich wunderbar sei, großzügig, einzigartig; ich höre sie schlecht, weil sie das Gesicht in mein Jackett drückt, und streiche ihr über den Rücken.
«Der Direktor», sagt sie.
«Was?»
«Herr Lakebrink ist der Direktor von Maries Schule. Du hast letzte Woche mit ihm gesprochen. Auf der Elternversammlung.»
Ich nicke, als wüsste ich das längst. Selbstverständlich muss ich mir einen überzeugenden Grund ausdenken, warum wir doch nicht nach Sizilien können. Sie wird so enttäuscht sein, dass ich mir ein noch größeres Versprechen einfallen lassen muss, um sie zu besänftigen, und auch das werde ich brechen. Alles wegen dieser Elternversammlung, an die ich mich sogar gut erinnere: die Decke niedrig, der Fußboden aus Kunststoff, grelle Lampen und ein Plakat mit dem Aufruf, sich dringend bald gegen irgendwas impfen zu lassen.
«Eines noch, Eric!» Sie streicht mir über die Wange. Ihre Berührung erinnert mich daran, wie sehr ich sie noch vor kurzem begehrt habe. «Vorgestern hast du Marie gesagt, das Wichtigste ist, nicht aufzufallen. Niemals den Neid der anderen zu erregen.»
«Na und?»
«Sie hat das sehr ernst genommen.»
«Gut so.»
«Aber gestern hast du ihr gesagt, man soll nie Kompromisse machen. Immer kämpfen und immer versuchen, der Beste zu sein. Keinem Streit aus dem Weg gehen.»
«Und?»
«Jetzt ist sie verwirrt.»
«Warum?»
«Weil sich das widerspricht!»
«Sizilien!», rufe ich.
Sofort hellen sich ihre Züge auf.
Wir umarmen uns von neuem, und ein schwindelerregend starkes Déjà-vu überkommt mich. Ich erinnere mich, dass ich schon einmal hier gestanden und sie in den Armen gehalten und ebendieses Gespräch mit ihr geführt habe, in einem Traum oder in einem anderen Leben oder auch in diesem Leben, vor zwei oder drei Tagen. Und in Kürze werden wir abermals hier stehen, und vermutlich kommt dann wieder Herr Lakebrink vor, bis irgendwann das Beil fällt und die Polizei hereinstürmt und es sich nicht mehr wiederholt. Ich gebe ihr einen grässlich keuschen Kuss auf die Stirn, gehe schnell zur Treppe und sage: «Ich liebe dich», ohne mich umzudrehen. Warum, wo es doch wahr ist, fühlt es sich an wie eine Lüge?
«Ich dich auch», ruft sie, und obwohl es sich falsch anhört, weiß ich, dass es stimmt.
Aus Zerstreutheit nehme ich die erste Treppenstufe mit dem linken Fuß. So etwas sollte nicht passieren, besonders in diesem Haus darf ich auf keinen Fall unvorsichtig sein. Von Anfang an, schon bei der ersten Besichtigung, hatte ich hier kein gutes Gefühl.
Bloß jetzt nicht an die Dachkammer denken. Ich muss so tun, als hätte ich vergessen, dass es sie gibt. Alles in ihr ist abstoßend: Die Dachschräge trifft den Boden in einem besonders hässlichen Winkel, auf die Tapete sind schlammbraune Rechtecke gedruckt, wegen der Schmutzflecken im Glas wirft die alte Lampe das abscheulichste Fünfeck auf die Dielen, und hinter dem schmalen Tisch, aufgestellt von irgendjemandem vor vielen Jahren, klafft eine Lücke. Man muss nur ein paar Minuten in dem Raum verbringen, dann weiß man, dass dort einer gestorben ist.
Daran ist an sich nichts Ungewöhnliches. In fast jedem Zimmer eines alten Hauses ist schon jemand verreckt. Aber in dieser Dachkammer war es ein besonders schwerer Tod. Er hat sich lange hingezogen, unter großen Schmerzen. Geister sind erschienen, Dämonen sichtbar geworden, vom Todeskampf angelockt. Aber wie hätte ich das Laura erklären sollen? Siebeneinhalb Millionen. Das Haus gefiel ihr sofort. Maurische Fliesen auf der Terrasse, fünf Badezimmer, ein Medienraum. Was hätte ich tun sollen?
Also bin ich eines Nachts hinaufgestiegen. Denn es ist möglich: Man kann dem Schrecken gegenübertreten, bis er nachgibt und sich zurückzieht. Fast drei Stunden habe ich ausgehalten. Der Tisch, die Schatten, die Lampe, ich. Und noch jemand.
Dann bin ich gerannt. Die Treppen hinunter, durch die Halle, in den Garten. Am Himmel der Halbmond, umgeben von schillernden Nachtwolken. Wohl eine Stunde habe ich im Gras gelegen, und als ich zurück ins Bett geschlichen bin, ist Laura aufgewacht und hat mir von ihrem Traum erzählt, einem bunten Vogel, einem freundlichen Briefträger und einer Lokomotive. Und ich habe zur Decke hinaufgesehen und daran gedacht, dass es das Zimmer da oben geben wird, solange wir leben. Auch wenn wir nicht mehr hier wohnen, auch wenn hier längst andere sind, ist es noch da.
Ich öffne die Haustür. Mein Gott, ist das heiß. Das Auto wartet mit laufendem Motor, Knut sitzt missmutig am Steuer. Er hasst das Warten. Ich weiß nicht, wieso einer wie er Chauffeur geworden ist. Außerdem ist mir ein Rätsel, warum er Knut heißt. Er ist Grieche und sieht auch so aus: Bartstoppeln, schwarze Haare, braune Haut. Auf einer langen Fahrt hat er mir einst die Geschichte seines Namens erzählt, ich habe nicht zugehört, und wenn ich jetzt noch einmal danach fragen würde, wäre er beleidigt. Ich steige ein, Knut fährt ohne Gruß los.
Ich schließe die Augen. Schon höre ich ihn hupen.
Er ruft: «Idiot!», und hupt wieder. «Haben Sie das gesehen, Chef?»
Ich öffne die Augen. Die Straße ist völlig leer.
«Einfach von links!», ruft er.
«Unglaublich.»
«Der Idiot!»
Während er auf das Lenkrad klopft und schimpfend dahin und dorthin zeigt, frage ich mich zum tausendsten Mal, wie ich ihn loswerden soll. Leider weiß er zu viel über mich; ich bin sicher, dass er schon am Tag nach der Kündigung anonyme Briefe schreiben würde – an Laura, an die Polizei, was weiß ich, wer ihm noch einfiele. Die einzige Möglichkeit wäre ein diskreter Mord. Aber wollte ich tatsächlich jemanden töten, wüsste ich niemand anderen als ihn, den ich um Hilfe bitten könnte. Es ist verzwickt. Ich ziehe das Telefon hervor und betrachte die Kurse. Die Rohstoffpreise sind gefallen, der Euro hat sich gegenüber dem Dollar nicht erholt, und die überbewerteten IT-Papiere stehen genau dort, wo sie gestern standen. Ich begreife es nicht.