«Heiß!», ruft Knut. «So heiß, so heiß!»
Ich war überzeugt, die IT-Werte würden fallen. Andererseits habe ich kommen sehen, dass das nicht geschieht – nicht aus Einsicht in den Markt, sondern weil ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, dass stets das Gegenteil von dem eintritt, was ich erwarte. Aber wem soll ich denn folgen: meiner Einschätzung oder dem Wissen, dass ich fast immer unrecht habe?
«März, April!», ruft Knut. «Immer Regen. Mai – Regen. Immer! Und jetzt das!»
Aber Verluste erschrecken mich nicht mehr. Hätten die Kurse sich entwickelt, wie ich es vorhergesagt habe, es hätte nichts verändert. Steigende Kurse retten mich nicht mehr. Nur ein Wunder könnte das.
Das Telefon vibriert, auf dem Bildschirm steht: Kommst du heute?
Jederzeit, tippe ich.
Während ich auf die Sendetaste drücke, denke ich darüber nach, welche Ausrede ich gebrauchen könnte, falls sie schreibt, ich soll sofort kommen. Denn ich habe ja keine Zeit: Adolf Klüssen hat sich angemeldet, mein wichtigster Klient. Aber sie ist tagsüber ohnehin meist beschäftigt, und wenn sie schreibt, dass ich erst am Abend kommen soll, wird sie sich schuldig fühlen, und das ist hilfreich, darauf lässt sich aufbauen.
Ich starre das Telefon an. Der Bildschirm starrt grau zurück. Keine Antwort.
Und noch immer keine Antwort.
Ich schließe die Augen und zähle langsam bis zehn. Knut redet, ich achte nicht darauf. Bei sieben verliere ich die Geduld, öffne die Augen und blicke auf den Schirm.
Keine Antwort.
Na gut, vergiss es. Ich brauche sie nicht, es geht mir besser ohne sie! Vielleicht ist es ja ihre Rache für letzten Sonntag.
Wir trafen uns vor dem Eingang, es war ein Programmkino, gezeigt wurde Orson Welles’ letzter Film, sie wollte ihn unbedingt sehen, mich interessierte er nicht, aber das war mir egal, weil mich ja auch kein anderer Film interessiert hätte. In der Lobby roch es nach Bratfett, beim Schlangestehen vor der Kasse ging uns der Gesprächsstoff aus, und gerade als wir uns setzen wollten, sprang in der Reihe vor uns ein Mann auf und brüllte meinen Namen.
Vor Schreck erkannte ich ihn zunächst gar nicht. Dann erst ordneten sich die Gesichtszüge: Mund, Nase, Augen und Ohren kehrten an ihre Plätze zurück, und die Erscheinung verwandelte sich in Dr. Übelkron, den Mann von Lauras bester Freundin, der noch auf keiner unserer Gartenpartys fehlte.
Ich umarmte ihn wie einen verlorenen Bruder. Dann boxte ich ihm ein paarmal auf die Schulter und fing an, ihm Fragen zu stellen: wie es der Gattin gehe und der Tochter und der Mutter und was man wohl halten solle von der Hitze. Der Film hatte schon angefangen, Leute um uns zischten, und auch Dr. Übelkron war anzusehen, dass er es gern hätte gut sein lassen, aber ich hörte nicht mit dem Reden auf, fragte weiter, ließ ihn nicht zum Antworten kommen und bearbeitete gnadenlos seine Schulter. Als ich endlich von ihm abließ, sank er erschöpft in seinen Sitz, ohne noch zu fragen, wer denn die Frau bei mir sei. Ich sah auf die Uhr, wartete genau vier Minuten, zog mein Telefon hervor, rief laut: «Oje», «O Gott», und: «Komme sofort», sprang auf und lief hinaus. Dass Sibylle noch im Kino saß, fiel mir erst im Taxi auf.
Das Telefon vibriert. Gut, komm!
Wann?
Nach drei Sekunden die Antwort: Jetzt.
Kann nicht, tippe ich. Wichtiger Klient. Aus Gewohnheit kommt es mir wie eine Ausrede vor, dabei ist es die Wahrheit. Ich drücke die Sendetaste und warte.
Nichts.
Aber was soll das, warum antwortet sie nicht? Unter Aufbietung aller Willenskraft stecke ich das Telefon ein. Wir sind da.
Wie immer steige ich auf der Straße aus und lasse Knut allein in die Tiefgarage fahren, ich kann nicht da hinunter, es geht einfach nicht. Schnell durch die Gluthitze, schon öffnen sich Glastüren, und ich betrete die Lobby. Die Liftkabine trägt mich in den zwölften Stock. Ich eile durch das Großraumbüro, sehe überall ähnliche Gesichter vor ähnlichen Bildschirmen. Einige kenne ich, andere nicht, ich bin froh, dass keiner mich anspricht, in letzter Zeit habe ich zu viele Namen vergessen.
Meine Sekretärinnen begrüßen mich schweigend. Die eine ist schön, die andere kompetent, sie hassen einander, und mich mögen sie auch nicht sehr. Mit der schönen, die Else heißt, habe ich sechs- oder siebenmal geschlafen. Ich hätte sie längst entlassen, aber sie könnte mich erpressen. Mit der anderen, Kathi, habe ich nur ein einziges Mal geschlafen, unter dem Einfluss neuer Medikamente, die mich dazu gebracht haben, allerlei Dinge zu tun, an die ich nicht mehr denken möchte.
«Herr Klüssen wartet schon», sagt Kathi.
«Fein!» Ich gehe in mein Büro, setze mich hinter den Schreibtisch, falte die Hände und zähle langsam bis zehn. Dann erst hole ich mein Telefon aus der Tasche. Keine Antwort. Warum behandelt sie mich so?
Ich verwalte das gesamte Vermögen von Adolf Albert Klüssen, und ich habe alles verloren. Alle Auszüge und Aufstellungen, die er in den letzten zwei Jahren bekommen hat, waren gefälscht. Der Mann ist alt und nicht sehr klug, und wenn ich auch nicht mehr imstande bin, sein Geld zurückzugewinnen, so kriege ich es doch noch hin, beeindruckende Bilanzen zu erfinden und Gewinne auszuweisen, die ich gemacht hätte, hätte ich die Entwicklung des Marktes vorausgesehen. Ich füge den Zahlen dann allerlei Kurven hinzu, in Rot, Blau und Gelb, das stärkt das Vertrauen. Aber jedes Gespräch mit ihm birgt Gefahren.
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Die Aussicht ist spektakulär, man kann sich schwer gewöhnen an so viel Weite und Helligkeit. Wie immer, wenn die Welt mich ungefragt mit Glanz und Glitzern bedrängt, muss ich an Iwan denken, an einen fernen Nachmittag in Arthurs Bibliothek. Wir waren zweiundzwanzig, Weihnachten stand bevor, Iwan war aus Oxford gekommen, ich aus dem Sanatorium.
«Erzähl!», sagte er.
Ich hatte kaum Erinnerungen an die letzten Monate. Alles war eierschalengelb gewesen, die Wände, der Boden, die Zimmerdecke, die Kittel der Pfleger. Nachts wusste man nicht, ob die Stimmen, die man hörte, von den anderen Patienten kamen oder aus dem eigenen Kopf.
«Du musst mitspielen», sagte Iwan, «das ist der ganze Trick. Lügen musst du. Du denkst, die Leute durchschauen dich, aber keiner durchschaut irgendwen. Man kann in Menschen nicht lesen. Du denkst, die anderen kriegen mit, was in dir vorgeht, aber das stimmt nicht.»
«Ich weiß nicht, wovon du sprichst.»
«Das ist die richtige Antwort. Beobachte, leite die Regeln ab. Menschen sind nur selten spontan, meist sind sie Maschinen. Was sie tun, tun sie aus Gewohnheit. Du musst Regeln ableiten, und dann musst du dich an sie halten, als ob dein Leben davon abhinge. Denn das tut es ja. Dein Leben hängt davon ab.»
Ich starrte auf den Tisch. Uraltes Holz, ein Erbstück der Familie, er hatte unserem Ururgroßvater gehört, der angeblich Schauspieler gewesen war. Die schwarze Maserung bildete ein Muster von eigentümlicher Schönheit. Es überraschte mich, dass ich so etwas überhaupt bemerkte, aber dann wurde mir klar, dass nicht ich es war, der das wahrnahm. Es war Iwan.
«Wahrheit, schön und gut», sagte er. «Aber manchmal hilft sie nicht weiter. Frag dich immer, was man von dir verlangt. Sag, was alle sagen, tu, was alle tun. Überleg dir genau, wer du sein möchtest. Frag dich, was der, der du sein möchtest, tun würde. Und dann tu genau das.»
«Wenn die Zelle sich damals nicht geteilt hätte», sagte ich, «es gäbe nur einen von uns.»
«Konzentrier dich!»
«Aber wer wäre das? Ich, du oder ein Dritter, den wir nicht kennen? Wer wäre das?»
«Der Trick ist, dass du es mit dir selbst ausmachen musst. Das ist das Schwierigste. Erwarte von niemandem Hilfe. Und lass dir nicht etwa einfallen, eine Therapie zu machen. Dort lernt man nur, mit sich einverstanden zu sein. Man lernt gute Entschuldigungen.»