Выбрать главу

Ich sollte ihm sagen, dass er recht hatte, denke ich jetzt, ich hätte keine Therapie machen sollen. Ich möchte mit ihm reden, heute noch, ich muss ihn sehen, ich brauche seinen Rat. Vielleicht könnte ich mir Geld von ihm ausleihen und verschwinden. Ein falscher Pass, ein Flugzeug nach Argentinien, nur ich allein. Noch wäre es möglich.

Ich nehme das Telefon und höre Elses, leider nicht Kathis Stimme. «Ich muss meinen Bruder sprechen. Rufen Sie ihn an, bitten Sie ihn her.»

«Welchen Bruder?»

Ich reibe mir die Augen. «Na welchen wohl!»

Sie schweigt.

«Also rufen Sie ihn an! Jetzt! Sagen Sie ihm, es ist wirklich wichtig. Und schicken Sie endlich Klüssen herein.»

Ich lege auf, verschränke die Arme und versuche, so auszusehen, als wäre ich tief in Gedanken versunken. Plötzlich fällt mir auf, dass ich Klüssen nicht draußen im Vorzimmer gesehen habe. Die Couch war leer. Aber hat sie nicht gesagt, er sei schon gekommen? Wenn er aber schon hier und nicht im Vorzimmer war, bedeutet das …? Besorgt sehe ich mich um.

«Hallo, Adolf!»

Da sitzt er und starrt mich an. Er muss die ganze Zeit schon dagewesen sein. Ich lächle und versuche so dreinzublicken, als wäre es ein Scherz gewesen.

Adolf Albert Klüssen, ein kräftiger Greis von Mitte siebzig, gut angezogen, befehlsgewohnt, die Haut sonnenfaltig, die Augenbrauen buschig, blickt mich an, als hätte er einen Frosch verschluckt, als hätte er heute schon seinen Schlüssel, seinen Pass und seine Brieftasche verloren und wäre dafür noch ausgelacht worden, als hätte man ihn beraubt und danach seinen Sportwagen zerkratzt. Unter den Achseln seines Polohemds hat er dunkle Schweißflecken, aber das liegt wohl an der Hitze und hat nichts zu bedeuten. Adolf Albert Klüssen, Sohn des Kaufhausbesitzers Adolf Ariman Klüssen, Enkel des Kaufhausgründers Adolf Adomeit Klüssen, Spross einer Familie, deren älteste Söhne so lange schon den Namen Adolf tragen, dass sich niemand dazu hat aufraffen können, diese Tradition aufzugeben, sieht mich an, als wäre die ganze Welt verachtenswert. Und dabei weiß er noch nicht einmal, dass er mittellos ist.

«Adolf! Wie schön, dich zu sehen!»

Seine Hand fühlt sich an wie knotiges Holz. Ich hoffe, die meine ist nicht feucht von der Nervosität. Immerhin habe ich meine Stimme gut im Griff, sie zittert nicht, und auch mein Blick ist fest. Er sagt etwas darüber, dass ich seine E-Mails nicht beantwortet hätte, und ich rufe, dass das ein Skandal ist und dass ich meine Sekretärin hinauswerfen werde. Schnell lege ich ihm drei bedruckte Blätter hin: Zahlen, die gar nichts bedeuten, darunter die Namen der bekanntesten risikolosen Blue-Chips: Apple, Berkshire Hathaway, Google und Mercedes-Benz, viele Tortengraphiken, alles so leuchtend bunt wie nur möglich.

Aber heute hilft das nicht. Er blinzelt, dann legt er die Blätter weg, beugt sich vor und sagt, er habe etwas Grundsätzliches auf dem Herzen.

«Etwas Grundsätzliches!» Ich stehe auf, gehe um den Tisch herum und setze mich auf die Tischkante. Immer ein wenig höher sein als das Gegenüber – ein alter Verhandlungstrick.

Er sei nicht mehr der Jüngste, sagt er. Er wolle nichts mehr riskieren.

«Riskieren?» Ich falte die Hände. «Beim Leben meines Vaters!» Händefalten ist hilfreich, es sieht ehrlich aus. Ganz falsch hingegen ist es, die Hand aufs Herz zu legen. «Wir haben nie etwas riskiert!»

Warren Buffett, sagt Klüssen, habe geraten, nie in etwas zu investieren, das man nicht verstehe.

«Aber ich verstehe es doch. Das ist mein Beruf, Adolf.» Ich stehe auf und trete ans Fenster, damit er mein Gesicht nicht sieht.

Vor ein paar Jahren war noch alles in Ordnung. Die Investitionen waren ertragreich, die Bilanzen passabel. Dann gab es einen Engpass in der Liquidität, und mir fiel auf, dass mich nichts daran hinderte, einfach zu behaupten, ich hätte Gewinne gemacht. Verkündet man Verluste, ziehen die Investoren ihr Geld ab, behauptet man einen Gewinn, bleibt alles beim Alten – man kann fortfahren, man gleicht den Verlust aus, niemand ist geschädigt, es sind nur Zahlen auf Papier. Also tat ich es, und nach ein paar Monaten war das Geld wieder da.

Aber ein Jahr später war ich in der gleichen Situation. Im schlechtesten Augenblick wollte mein zweitwichtigster Klient drei Millionen abheben. Ich hatte Positionen, die ich nicht ohne Verlust auflösen konnte, also wies ich falsche Gewinne aus, akquirierte dadurch neue Anleger und bestritt die Auszahlung mit deren Kapital. Ich war sicher, die Kurse würden sich schnell erholen und alles wieder in Ordnung bringen.

Doch dann fielen sie weiter. Mehr Anleger wollten Geld abziehen, und hätte ich nicht noch größere Bestände vom Kapital angegriffen, wäre alles aufgeflogen. Als die Kurse sich tatsächlich erholten, fehlte schon zu viel.

Aber ich hatte noch Hoffnung. Ich galt als erfolgreich, neue Anleger strömten mir zu, und ich verwendete ihr Geld, um die Rendite der alten Anleger zu bezahlen: zehn, zwölf, manchmal sogar fünfzehn Prozent, so viel, dass kaum einer auf die Idee kam, sein Kapital abzuziehen. Lange dachte ich, es werde sich plötzlich ein Ausweg auftun. Vor zwei Jahren dann, in einer Nacht endlosen Rechnens, begriff ich, dass das nicht geschehen konnte.

Argentinien oder Venezuela, Ecuador, Liberia, die Elfenbeinküste: neuer Pass, neuer Name, ein neues Leben. Ich hätte es tun sollen. Marie wäre vielleicht begeistert gewesen, Laura hätte auch anderswo Partys geben können. Das Wetter ist ohnehin überall besser als hier.

Aber dann war der Moment verstrichen. Ich war zu langsam gewesen, zu unentschlossen. Man braucht viel Geld, um mit Komfort zu verschwinden. Jetzt habe ich rein gar nichts mehr. Alles Kapital ist dahin, alle Kredite sind ausgeschöpft.

«Kennst du die Bhagavad Gita?», frage ich.

Klüssen starrt mich an. Damit hat er nicht gerechnet.

«Der Gott Krishna sagt zum Feldherrn Arjuna: Du wirst nie klären können, wieso alles so ist, wie es ist. Du kannst die Verstrickungen nicht auflösen. Aber du stehst hier, großer Krieger. Also frag nicht, steh auf und kämpfe.»

Ich habe das mal im Autoradio gehört. Das Zitat hat mir so gut gefallen, dass ich Else beauftragt habe, es nachzuschlagen.

«Na wo denn?», hat sie gefragt.

«In der Bhagavad Gita.»

«Wie soll ich es finden?»

«Indem Sie es lesen.»

«Das Ganze?»

«Nur bis zu dem Satz.»

«Und wenn er am Schluss steht?»

Sie hat ihn nicht gefunden, und ich zitiere aus dem Gedächtnis. Klüssen wird schon nicht nachschauen.

Er schweigt. Wie auch immer, sagt er dann. Er wolle sein Vermögen neu aufstellen.

«Adolf!» Ich schlage ihm so fest auf die Schulter, dass der Körper des Alten bebt. Für einen Moment verliere ich den Faden; das liegt wohl an seinen Augenbrauen. Bei so buschigen Brauen ist es kein Wunder, wenn man konfus wird. «Wir beide haben zusammen viel verdient. Und es wird mehr werden. Die Immobilienpreise steigen und steigen! Wer sich jetzt zurückzieht, wird es bedauern.»

Wie auch immer, wiederholt er und reibt sich die Schulter. Seine Frau, er und sein Sohn hätten gemeinsam beschlossen, die Assets neu zu streuen. Sein Sohn meine, das ganze System bewege sich auf einen Kollaps zu. Alle seien verschuldet. Kapital sei viel zu billig. Es könne nicht gutgehen.

«Assets streuen? Du weißt doch nicht mal, was das heißt!» Nein, jetzt bin ich zu weit gegangen. «Ich meine, natürlich weißt du das, aber es klingt nicht nach dir, das sind nicht deine Worte, das ist nicht der Adolf, den ich kenne.»

Sein Sohn, sagt er, habe gerade seinen MBA gemacht, und –

«Adolf! Die Universität ist eine Sache, aber die Wirklichkeit …!» Was soll denn das, was mischt dieser Sohn sich ein! Ich schweige kurz, dann hole ich Luft und rede lange. Es kommt nicht darauf an, was ich sage, Klüssen versteht wenig und merkt sich noch weniger. Es kommt darauf an, dass gesprochen wird, ohne Unterbrechung und Zaudern, es kommt darauf an, dass er meine Stimme hört und einsieht, dass er es mit einer größeren Kraft zu tun hat als der seinen und mit einem Intellekt, dem er nicht gewachsen ist.