Bald werde ich so vor Gericht sprechen müssen. Mein Anwalt wird mir raten, keine Aussage zu machen, das raten sie immer. Sie haben Angst, man verwickelt sich in Widersprüche, sie trauen einem nicht zu, mit dem Staatsanwalt fertigzuwerden, sie denken, man hat keine Überzeugungskraft. Womöglich werde ich mich dann von meinem Anwalt trennen müssen, was mitten im Verfahren einen schauderhaften Eindruck machen wird. Vielleicht ist es besser, ich verteidige mich gleich selbst. Aber Leute, die sich selbst verteidigen, hält man für Narren, ein respektabler Angeklagter muss auch einen teuren Verteidiger haben, einen pompösen, raumgreifenden Menschen. Daran führt kein Weg vorbei. Aber das Aussagen lasse ich mir nicht nehmen.
«Wieso?», fragt Klüssen.
«Bitte?»
«Wo willst du aussagen?»
Er sieht mich an, ich sehe ihn an. Es kann nicht sein, dass ich das laut gesagt habe, es muss ein Missverständnis sein. Also mache ich eine wegwerfende Handbewegung und spreche weiter: von Derivaten und Derivaten zweiter Ordnung, von unterbewerteten Immobilienfonds, von Risikostreuung und statistischer Arbitrage. Ich zitiere die Fachzeitschrift Econometrica, von der ich ein einziges Exemplar besitze, erwähne Spieltheorie und Nash-Gleichgewicht und unterlasse auch nicht die Andeutung, dass ich Verbindungen zu Leuten in Schlüsselpositionen unterhalte, die mir Insiderinformationen geben – am Rand der Legalität, aber sehr profitabel.
Schließlich verstumme ich. Man muss einem Gegner die Möglichkeit geben, sich zu besinnen. Er muss zu sich kommen und begreifen können, dass er verloren hat. Ich falte die Hände, beuge mich vor und sehe ihm in die Augen. Er holt ein Taschentuch hervor und putzt sich umständlich die Nase.
«Handschlag, Adolf!» Ich strecke die Hand aus. «Ein Mann, ein Wort, wir machen zusammen weiter. Ja?»
Er sei verwirrt, sagt er.
«Handschlag!»
Er sei verwirrt.
Mit meiner Linken fasse ich seinen rechten Arm und versuche, seine Hand in meine zu legen. Er widersteht. Ich ziehe, er widersteht weiterhin, er ist überraschend stark.
Er müsse nachdenken, sagt er. Er werde mit seinem Sohn sprechen, er werde mir einen Brief schreiben.
«Denk nur nach!», rufe ich mit belegter Stimme. «So lange du willst! Nachdenken ist wichtig.»
Nun schütteln wir einander doch die Hände, aber nicht zur Besiegelung unserer Geschäftsbeziehung, sondern zum Abschied. Ich drücke so fest zu, dass alle Sonnenbräune aus seinem faltigen Gesicht weicht. Ich weiß, dass ich verloren habe. Er wird sein Geld zurückverlangen. Und er weiß, dass ich das weiß. Was er nicht weiß, ist, dass ich sein Geld nicht mehr habe.
Für einen Moment kommt mir die Idee, ihn schnell umzubringen. Ich könnte ihn erwürgen oder ihm mit etwas Hartem den Schädel einschlagen. Aber dann? Wie schaffe ich die Leiche weg? Außerdem ist es wahrscheinlich, dass es auch in diesem Raum eine Kamera gibt. Müde lasse ich mich in den Sessel fallen. Ich stütze den Kopf in die Hände.
Als ich aufsehe, ist Klüssen gegangen. Statt seiner ist ein hochgewachsener Mann im Zimmer. Er lehnt an der Wand und sieht mich an. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Er ist noch da. Er hat eine hässliche Zahnlücke ganz vorne.
Nicht gut, denke ich.
«Nein», sagt der Mann. «Gar nicht gut.»
Ich schließe die Augen.
«Wird nicht helfen», sagt der Mann.
Und tatsächlich, ich sehe ihn noch.
«Misch dich nicht ein», sagt der Mann. «Geh einfach vorbei. Wenn du sie siehst, misch dich nicht ein. Lass es bleiben. Sprich die drei nicht an, geh weiter.»
Mir ist schwindlig. Nicht einmischen? Weitergehen? Ich kann dem jetzt nicht nachforschen, ich muss mich um Klüssen kümmern. Ein paar Wochen kann ich es wohl hinauszögern, ich werde Klüssen in einen komplizierten Schriftverkehr verwickeln, werde nicht erreichbar sein und alles durch endlose Einwände und Fragen behindern. Irgendwann wird er mich verklagen, dann wird die Staatsanwaltschaft mit ihren Ermittlungen beginnen, aber Zeit wird vergehen, und bis dahin kann ich noch mein Haus bewohnen und morgens zur Arbeit fahren. Es wird Herbst werden, Blätter werden fallen, und mit etwas Glück bin ich noch nicht verhaftet, wenn der Schnee kommt.
Der Mann ist nicht mehr da. Ich halte mir die Hand vor die Augen. Das Sonnenlicht im Fenster ist so grell, dass es die Tönung des Glases zu durchdringen scheint. Ich nehme den Telefonhörer und bitte Else um ein Glas Wasser. Da steht es schon, ich trinke. Als ich es absetze, sehe ich einen Priester, den ich kenne. Er ist noch dicker als beim letzten Mal. Wann ist mein Bruder hereingekommen? Und das Glas in meiner Hand, wer hat es so schnell gebracht?
«Kann ich etwas für dich tun?», frage ich vorsichtig. Gut möglich, dass ich ihn mir nur einbilde. Ich darf mir keine Blöße geben.
Er druckst herum, murmelt etwas, will sich offenbar nicht festlegen.
Ich nehme ein Blatt Papier und tue, als ob ich lese. Meine Hände zittern. Die Sache mit Klüssen hat mich mitgenommen.
Er fragt irgendetwas.
Also wohl keine Einbildung, Phantome fragen nie. Aber seine schwarze Kleidung verunsichert mich, ich muss an Exorzismen denken. Dann sagt er etwas über einen Würfel, und erst denke ich, er spricht vom Glücksspiel, aber da stellt sich heraus, dass er sein Hobby gemeint hat, und um mir den Schwachsinn nicht anhören zu müssen, frage ich ihn, ob er schon gegessen hat, stehe auf und gehe hinaus. Draußen bleibe ich bei Elses Tisch stehen, beuge mich vor, rieche ihr Parfum, zwinge mich, sie nicht anzufassen, und frage, warum in aller Welt mein Bruder hier ist.
Das sei doch ihre Aufgabe gewesen, sagt sie. Meinen Bruder anrufen! Und ihn bitten, schnell herzukommen. Das hätte ich angeordnet.
«Ach so», sage ich. «Klar. Richtig. Ich weiß.» Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Warum sollte ich das angeordnet haben?
Schnell gehe ich zum Lift. Das Telefon vibriert in meiner Tasche, ich nestle es hervor. Also was jetzt, willst du kommen oder nicht?
Jetzt?, schreibe ich zurück. Ich warte, mein Bruder ist nicht zu sehen. Warum sind alle immer so schwerfällig? Elende, das Leben vergällende Langsamkeit! Und warum antwortet sie nicht?
Da kommt er. Die Lifttüren gehen auf, wir betreten die Kabine, und mir fällt wieder Der Exorzist ein. Man darf Priester nicht unterschätzen. Ich erkundige mich nach Horoskopen. Das wollte ich immer schon wissen: Ob sie funktionieren, müsste man doch statistisch prüfen können. Man braucht nur hundert Leute, die am gleichen Tag ums Leben gekommen sind, entweder gibt es signifikante Gemeinsamkeiten in ihrem Horoskop oder nicht! Warum macht das keiner?
Er glotzt mich dumm an. Offenbar habe ich ihn gekränkt. Wein in Blut verwandeln, das geht in Ordnung, aber Horoskope sind unter seiner Würde. Ich ziehe das Telefon heraus. Keine Antwort. Da kommen wir auch schon unten an.
Wir gehen durch die Eingangshalle, die Glastüren öffnen sich. Großer Gott, ist das heiß. Mein Telefon vibriert. Kannst du um fünf?
Warum nicht jetzt???, schreibe ich. Neben mir hupt ein Auto, mir fällt auf, dass ich mitten auf der Straße bin. Da drüben ist schon das Restaurant, ich gehe jeden Tag dorthin. Die Einrichtung ist abscheulich, die Kellner sind herablassend, das Essen schmeckt mir nicht. Aber das ist gleichgültig, ich habe ohnehin selten Hunger, die Medikamente verhindern es.
Der Kellner rückt den Tisch weg, damit mein fetter Bruder sich auf die Sitzbank zwängen kann. Ich bestelle für uns beide, was ich jedes Mal bestelle: Spaghetti alle vongole. Ich mag keine Muscheln, aber es ist ein standesgemäßes Gericht, nicht zu viel, nicht zu schwer, nicht zu wenige Kalorien, nicht zu billig.
Das Telefon vibriert. Gut, dann jetzt.