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Martin fragt mich nach Wirtschaft und Prognosen, ich antworte irgendetwas. Warum sitzen wir hier, was will er? Jetzt kann ich nicht, schreibe ich. Wie stellt sie sich mein Leben vor, glaubt sie, ich kann jederzeit alles stehen und fallen lassen, nur weil sie sich gerade allein fühlt? Am späten Nachmittag, ja?

Ich warte. Keine Antwort. Mein Bruder fragt, ich antworte, ohne mir selbst zuzuhören. Ich sehe auf das Telefon, lege es weg, nehme es wieder, lege es weg, nehme es wieder, warum antwortet sie nicht?

«Wenn du jemandem eine Nachricht schickst», frage ich, «und er antwortet, und du antwortest wieder und bittest um schnelle Antwort, und es kommt keine, würdest du dann davon ausgehen, dass er die Nachricht nicht bekommen hat oder dass er einfach nicht antwortet?»

«Er oder sie?»

«Was?»

Er blickt mich verschlagen an. «Du hast einmal ‹er› und einmal ‹sie› gesagt.»

Was für ein Unsinn. Ich weiß, was ich gesagt habe. Eine lächerlich plumpe Falle. «Und?»

«Nichts», sagt er lauernd.

Was will er mir entlocken, wie hat er es geschafft, dass ich über persönliche Dinge mit ihm spreche? Diese Priester sind geschickt. «Was willst du wissen?»

«Nichts!»

Sein Mund ist verschmiert von Sauce. Teller stehen jetzt zwischen uns, seiner ist schon fast leer, meiner unberührt. Wann sind sie gebracht worden? «Es ist völlig egal, was für eine Nachricht», sage ich. «Es spielt keine Rolle.»

Er murmelt etwas, versucht, sich herauszureden.

Warum antwortet sie nicht? «Vielleicht gehört es ja zu deinem Beruf. Vielleicht müsst ihr so neugierig sein.»

Mein Telefon vibriert. Na dann eben später.

Wann?, schreibe ich und frage mich zum wohl tausendsten Mal, über wie viele Server diese Nachricht laufen wird und wie viele Unbeteiligte sie lesen können. Jeder von ihnen könnte mich erpressen. Warum zwingt sie mich zu so unvorsichtigem Verhalten? «Führt ihr noch Exorzismen durch? Dämonische Besessenheit. Macht ihr das noch? Habt ihr Leute dafür?»

Er sieht mich dumm an.

«Was ist die klassische Lehrmeinung? Muss man einen Dämon zulassen, wenn er kommt? Braucht er eine Einladung, oder kann er einen einfach in Besitz nehmen?»

«Warum willst du das wissen?»

Immer diese Gegenfragen. Warum kann er einem nicht sagen, was man wissen will? Weil ich Angst vor Geistern habe, jeden Tag, immer – soll ich das antworten? «Ein Buch, nur ein Buch. Ich habe so ein Buch gelesen. Ein seltsames Buch. Egal.»

Das Telefon vibriert. Hab schon gebucht, Flug und Hotel, Samstag frueh los, Sonntagnacht zurueck, freue mich so ;-)

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass das von Laura ist. Seit wann bucht sie selbst Flüge? Wunderbar!, schreibe ich zurück. Ich werde wirklich eine gute Ausrede brauchen.

Kaum habe ich die Sendetaste gedrückt, vibriert das Telefon schon wieder. Wie geht es dir, ruf mich doch an, wenn du mal Zeit hast! Martin.

Gut. Ganz ruhig. Immer mit der Ruhe. Ich blicke auf, da sitzt er vor mir. Martin. Mein Bruder. Ich blicke aufs Telefon, die Nachricht steht noch da. Ich blicke in sein Gesicht. Ich blicke aufs Telefon. Ist es doch Einbildung? Sitze ich allein hier? Sein Teller ist leer, meiner ist voll, das spricht dagegen.

Aber warum sollte es dagegensprechen? Ich weiß es nicht mehr, der Gedanke ist mir abhandengekommen. Wer sich einen Bruder einbildet, kann sich auch einen leeren Teller einbilden. Keine Panik. Das Wichtigste ist, dass man ruhig bleibt. Vorsichtig, um keine falsche Taste zu erwischen, lösche ich die Nachricht. Dann lege ich das Telefon weg und sage, um irgendetwas zu sagen: «Diese Hitze!»

Er fragt nach Laura und Marie, ich antworte ihm. Ich erzähle von Mutters neuer Fernsehsendung, dann erkundige ich mich nach seiner Mutter. Offenbar ist er ständig bei ihr, der arme Hund, es ist ein Jammer. Dabei mag ich seine Mutter, mag sie auf jeden Fall mehr als meine. Gerade als ich ihn fragen will, ob das wirklich nötig ist, diese ständigen Besuche, und ob man daran nichts ändern sollte, schlägt mir jemand auf die Schulter: Lothar Remling. Das Telefon vibriert, aber jetzt kann ich nicht nachsehen, ich springe auf: Schulterklopfen, Oberarmschlag, Fußballgespräch. Dann trollt er sich. Ich kann den Kerl nicht leiden, er hat mir vor ein paar Jahren fast den Ostermann-Deal ruiniert. Endlich kann ich nachsehen. Drei Nachrichten.

Ich halte das nicht mehr aus.

Komm später oder jetzt, egal.

Komm jetzt, oder komm nicht.

Ich stehe auf, sage etwas von einem dringenden Termin und renne los.

Die Hitze scheint noch schlimmer geworden zu sein, der Weg ist kurz, sie wohnt nur zehn Blocks weiter. Schnell merke ich aber, dass ich heute besser den Wagen genommen hätte.

Ich bleibe stehen, ziehe das Telefon hervor. Das Freizeichen: einmal, zweimal, ein drittes und ein viertes Mal. Geht sie nicht mehr ran, wenn ich anrufe, sind wir schon so weit?

Sibylle hebt ab. «Was ist denn, Eric?»

«Ich muss dich sehen!»

«Ich habe doch geschrieben, du kannst jetzt kommen.»

«Aber jetzt kann ich nicht!»

Schon denke ich, sie hat aufgelegt. Aber sie ist noch da. «Eric, das ist nicht auszuhalten. Erst die Sache im Kino, und jetzt –»

«Sprich nicht weiter! Nicht am Telefon.»

«Aber –»

«Weißt du, wie viele Leute uns zuhören könnten?»

«Du hast mich angerufen!»

«Weil ich dich sehen muss.»

«Und ich habe gesagt, komm.»

«Aber jetzt geht es nicht.»

«Dann komm nicht.»

Mir ist schwindlig. Hat sie wirklich gesagt, ich soll nicht kommen? «Bist du zu Hause?»

Sie schweigt.

«Warum sagst du nichts?»

Ich horche, und erst nach einer Weile begreife ich, dass sie aufgelegt hat.

Ich muss mich setzen. Neben der Straße ist ein Sportplatz aus Asphalt, umgeben von Drahtzaun, am Rand eine Bank.

Da sitze ich einige Zeit mit geschlossenen Augen. Ich höre den Verkehrslärm: Hupen, Motoren, einen Presslufthammer. Die Sonne brennt. Mein Herzschlag wird ruhiger.

Als ich die Augen öffne, sitzen zwei Kinder neben mir. Ein Junge mit Schirmkappe und ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und einer blauen Schleife. Sie ist etwa sechs Jahre alt, er ungefähr zehn.

«Was machst du hier?», fragt er.

«Ich sitze», sage ich. «Was machst du?»

«Ich sitze auch.»

Wir sehen das Mädchen an.

«Ich auch», sagt es.

«Wohnt ihr hier in der Gegend?», frage ich.

«Weit weg», sagt sie. «Du?»

«Auch sehr weit weg», sage ich.

«Wie alt bist du?», fragt der Junge.

«Siebenunddreißig.»

«Das ist alt», sagt das Mädchen.

«Ja», sage ich. «Das ist alt.»

«Stirbst du bald?»

«Nein.»

«Aber irgendwann stirbst du.»

«Nein!»

Wir schweigen eine Weile.

«Seid ihr zum Spielen hier?»

«Ja, aber es ist zu heiß», sagt der Junge.

«Man kann gar nichts machen, wenn es so heiß ist», sagt das Mädchen.

«Hast du Kinder?», fragt er.

«Eine Tochter. Sie ist ungefähr so alt wie du.»

«Ist sie auch hier?»

«In der Schule. Sie ist in der Schule. Warum seid ihr nicht in der Schule?»

«Wir schwänzen», sagt sie.

«Das solltet ihr nicht.»

«Warum nicht?»

Ich denke nach. Mir fällt beim besten Willen kein Grund ein. «Weil das doch nicht geht», sage ich zögernd. «Ihr müsst lernen.»

«Man lernt da nicht viel», sagt sie.

«Wenn man einen Tag nicht hingeht, versäumt man gar nichts», sagt er.

«Also morgen geht ihr wieder hin?»

«Vielleicht», sagt er.

«Ja», sagt sie.

«Vielleicht», sagt er wieder.

«Wie heißt ihr denn?»

Das Mädchen schüttelt den Kopf. «Wir dürfen Fremden unsere Namen nicht sagen.»

«Ich glaube, ihr dürft mit Fremden gar nicht reden.»