«Doch. Reden schon. Aber nicht den Namen verraten.»
«Das ist merkwürdig», sage ich.
«Ja», sagt er. «Das ist merkwürdig.»
«Ist sie deine Schwester?», frage ich.
«Er ist mein Bruder», sagt sie.
«Geht ihr in dieselbe Schule?»
Die beiden sehen einander fragend an. Er zuckt die Achseln.
Ich weiß genau, dass ich es eilig habe, dass ich weitergehen sollte, dass ich zu Sibylle muss und danach zu der Konferenz. Aber statt aufzustehen, schließe ich erneut die Augen.
«Warst du mal in einem Flugzeug?»
«Ja, wieso?»
«Warum kann das fliegen?»
«Wegen der Flügel.»
«Aber ein Flugzeug ist so schwer. Warum kann es fliegen?»
«Der Auftrieb.»
«Was ist das?»
«Ich weiß nicht.»
«Aber warum fliegt es?»
«Der Auftrieb.»
«Was ist das?»
«Ich weiß nicht.»
«Das weißt du nicht?»
«Nein.»
«Aber du warst in der Schule.»
«Ja.»
«Also warum fliegt es?»
Die Dunkelheit hinter meinen Lidern ist hell vom Sonnenlicht. Leuchtendes Orange, darin gelbe Kreise, die wandern, steigen, sinken. Selbst das Geräusch des Presslufthammers kommt mir auf einmal friedlich vor.
«Lass die drei», sagt der Junge. «Misch dich nicht ein, geh weiter.»
«Was?» Ich blinzle in die Sonne. «Was hast du gesagt?»
«Ich habe gesagt, wir müssen jetzt weiter.»
Schnell stehe ich auf. «Ich auch.»
«Josi», sagt der Junge. «Ich heiße Josi. Das ist Ella.»
«Und wie heißt du?», fragt das Mädchen.
«Hans.» Es rührt mich, dass sie mir ihre Namen verraten haben, aber das ist kein Grund, unvorsichtig zu sein.
«Auf Wiedersehen, Hans!»
Ich gehe und fühle mich so leicht, als könnte ich mich vom Boden lösen. Vielleicht liegt es an der Sonne, vielleicht am Hunger. Ich hätte die Muschelnudeln vorhin essen sollen. Um nicht ohnmächtig zu werden, bleibe ich an einer Imbissbude stehen.
Es dauert lange, bis ich an der Reihe bin. Vor mir stehen drei Halbwüchsige und streiten sich mit dem Verkäufer. Einer trägt ein T-Shirt, auf dem MorningTower steht, auf dem des zweiten steht bubbletea is not a drink I like, auf dem des dritten prangt ein grellrotes Y. Bescheuert, sagt der eine gerade zum Verkäufer, absoluter Bullshit, worauf der Verkäufer sagt, sie sollten abhauen, worauf einer von ihnen antwortet, er solle selber abhauen, worauf der Verkäufer sagt, lieber sollten sie abhauen, worauf ein anderer von ihnen antwortet, er solle doch selber lieber abhauen, und so geht es eine Weile. Ich will schon weitergehen, aber dann ziehen sie schimpfend ihrer Wege, verschwinden ins nächste U-Bahn-Loch, und ich kann ein Hotdog kaufen. Es schmeckt gar nicht schlecht. Mein Telefon läutet. Es ist Iwan. Unschlüssig drücke ich die Annahmetaste.
«Ich dachte mir, ich sollte mal anrufen», sagt er.
«Warum?»
«Nur so ein Gefühl. Alles in Ordnung?»
«Natürlich.»
«Warum habe ich dann so ein Gefühl?»
«Vielleicht, weil ich heute mit dir … Ach so!» Da begreife ich. Vor Überraschung bleibe ich stehen. Autos hupen, ein Polizist schreit mich an, schon wieder bin ich auf die Straße geraten, ohne es zu merken.
«Warum lachst du?»
«Ich hatte meiner Sekretärin gesagt, sie soll dich anrufen, aber sie hat … Stell dir vor, sie hat Martin angerufen!»
«Martin!»
«Wir waren mittagessen. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum.»
«Wie gehen die Geschäfte?»
«Gut. Wie immer. Und die Kunst?»
«Ich muss die Auktionshäuser im Auge behalten. Man darf nicht die Kontrolle über die Preise verlieren. Außerdem –»
«Hast du in der letzten Zeit mit Mutter gesprochen?»
«Ja richtig, ich muss sie bald anrufen. Sie hat mir drei Nachrichten hinterlassen. Aber irgendwas ist mit dir. Ich merke das. Du kannst es leugnen, aber –»
«Muss jetzt aufhören!»
«Eric, du kannst mir alles –»
«Alles in Ordnung, wirklich, muss jetzt aufhören.»
«Aber wieso –»
Ich drücke die Auflegetaste. Es ist seltsam, mit Iwan zu reden, beinahe ein Selbstgespräch, und plötzlich wird mir wieder klar, warum ich ihn meide. Es fällt schwer, vor ihm ein Geheimnis zu bewahren, er durchschaut mich, wie ich ihn durchschaue, dabei darf er doch nicht wissen, wie schlecht es um mich und die Geschäfte steht, es wäre zu peinlich, wäre eine zu große Niederlage, und ich könnte auch nicht sicher sein, dass er es für sich behalten würde. Die alte Regeclass="underline" Ein Geheimnis bleibt nur dann eines, wenn wirklich niemand davon weiß. Hält man sich daran, ist es nicht so schwer zu bewahren, wie die Leute meinen. Man kann jemanden fast so gut kennen wie sich selbst, und man liest doch nicht seine Gedanken. Ich darf Iwan nicht um Geld bitten. Ich darf ihn nicht bitten, mir beim Verschwinden zu helfen. Er ist zu rechtschaffen und würde es nicht verstehen.
Ich wünschte, er wäre nicht homosexuell. Als ich es erfahren habe, hat es mich wochenlang ganz verrückt gemacht. Jemand, der mir so ähnlich ist – was sagt das über mich aus, was bedeutet es? Nichts, ich weiß, nichts, nichts, es bedeutet rein gar nichts, aber ich habe es ihm nie verzeihen können.
Ich schicke eine Nachricht an Knut – die Adresse und dazu die Anweisung, gleich loszufahren. Dann drücke ich Sibylles Haustür auf, laufe in den ersten, zweiten, dritten Stock hinauf, will vor ihrer Wohnungstür warten, bis ich wieder zu Atem gekommen bin, bin aber zu ungeduldig dafür und klopfe an. Ich könnte auch klingeln, aber nachdem sie mich so abgefertigt hat, brauche ich einen stärkeren Auftritt.
Sie öffnet die Tür. Sofort bemerke ich, wie gut sie aussieht. Sie ist nicht so schön wie Laura, aber aufregender: die langen Haare, der schmale Hals, die entblößten Arme mit den bunten Reifen. Sie war meine Therapeutin, aber seit einem halben Jahr behandelt sie mich nicht mehr, sie sagt, das würde gegen ihr Berufsethos verstoßen. Das macht aber nichts, die Therapie war ohnehin sinnlos, ich habe ihr nur Lügen erzählt.
«Ist die Klingel kaputt?»
Ich gehe durch den Flur ins Wohnzimmer. Dort hole ich Luft, suche nach Worten und finde keine.
«Armer Kerl. Komm her.»
Ich balle die Fäuste, hole Luft, öffne den Mund. Aber ich bringe nichts heraus.
«Armer Kerl», sagt sie wieder, und schon sind wir auf dem Teppich. Ich will protestieren und uns zur Ordnung rufen, denn das ist ja das Wichtigste, dass man sich zur Ordnung zu rufen weiß, aber es hilft nichts, denn plötzlich begreife ich, dass ich uns doch nicht zur Ordnung rufen will, ich will ja das, was hier passiert, in und über und an ihr, und warum auch nicht, denn sonst hat man ja nichts auf der Welt.
«Aber –»
«Schon gut», flüstert sie mir ins Ohr. «Schon gut.»
Heiß ist es, sie hat keine Klimaanlage, von so etwas, meint sie, wird man krank. Und mir ist, als stünde ich auf, träte zurück und sähe uns zu: Ein wenig sonderbar das Ganze, eher albern als peinlich, und ich frage mich, ob die Leute, die so gern von der Würde des Menschen sprechen, das hier eigentlich schon einmal nüchtern betrachtet haben. Aber zugleich bleibe ich der auf dem Teppich, und ich spüre, dass der Moment gleich da sein wird, in dem ich nicht mehr gespalten bin, sondern eins, und nur für Sekundenbruchteile taucht in mir der Gedanke auf, dass ich mich erpressbar mache, falls es in diesem Raum eine Kamera gibt, und dann ist da das Bild Lauras, die ich schon wieder hintergehe und der ich unrecht tue, indem ich sie ständig belüge, aber im nächsten Augenblick ist das Bild wieder verschwunden, und ich weiß nur noch, dass jeder Mensch tun muss, was ihn rettet, und alles ist endlich das, was es ist und nichts sonst, alles ist endlich gut.
Wir liegen auf dem Rücken, ihr Kopf auf meiner Brust. Ich will nirgendwohin, nichts macht mir Sorgen. Lang wird das nicht anhalten.
«Wie geht es ihr?», fragt Sibylle.
Ich muss überlegen, um zu verstehen, wen sie meint. Ich wiege den Kopf und streiche über ihr seidiges Haar. Schon wird alles, was mich bedrängt, wieder wirklich.