«Vielleicht könnte ich ihr helfen.»
Ich ziehe meine Hand zurück.
«Ich meine, ich könnte einen Kollegen empfehlen. Begleitende Gesprächstherapie. Wenn sie wieder gesund ist, führen wir alle unser Leben weiter. Sie ihres. Und wir beide unseres. Zusammen.»
Am Anfang verfolgte ich noch keine Absicht damit, es war eine Geschichte von vielen, die ich erzählt habe, aber später erwies sie sich als hilfreich: Niemand kann eine krebskranke Ehefrau verlassen, niemand darf das verlangen. Und manchmal kommt es mir vor, als wäre diese Version tatsächlich wahr – als spielte sie sich in einem anderen Weltall genau so ab, wie ich sie Sibylle erzählt habe. Ich könnte darüber mit einem Therapeuten reden, aber Sibylle will mich nicht mehr behandeln, und mit jemand anderem möchte ich es nicht versuchen, ich habe schon genug Probleme.
«Ich muss gleich los», sage ich.
Wie seltsam, dass ich den ganzen Tag an sie denke und doch nur verschwinden will, sobald ich bei ihr bin. Sanft schiebe ich ihren Kopf beiseite, stehe auf und beginne, meine Kleider zusammenzusuchen.
«Immer hast du es eilig.» Sie lacht traurig. «Du lässt mich im Kino sitzen, und dann schreibst du solche Nachrichten! Mein Therapeut hat mich gefragt, warum ich mir das antue. Weil du gut aussiehst? Ich habe gesagt, so gut sieht er nicht aus, aber dann wollte er dein Foto sehen, und ich konnte es nicht leugnen. Oder wegen dem hier?» Sie deutet auf den Teppich. «Ja, es ist gut, wirklich gut, aber das liegt auch an der Übertragung. Mein Therapeut meint, dass ich Reaktionen zeige, die ganz automatisch getriggert werden vom Zusammentreffen von Regression und Aggressivität. Was soll man da tun!»
Ich räuspere mich zustimmend, steige in meine Hosenbeine, knöpfe das Hemd zu, binde ohne Spiegel die Krawatte und bringe es fertig, so zu blicken, als verstünde ich, was sie meint.
«Keine Sorge», sagt sie. «Du schaffst das. Du bist stärker, als du denkst.»
«Ich weiß.»
Sie lächelt, als hätte sie einen hintergründigen Scherz gemacht, ich lächle auch und gehe aus dem Zimmer. Ich haste die Treppe hinunter und laufe auf die Straße. Auf der anderen Seite ist ein Bürohaus, ich nehme den Hintereingang, fahre in den ersten Stock, stelle mich bei Starbucks an und hole mir einen geschäumten Sojamilchcappuccino, damit Knut sieht, dass ich wirklich in dem Haus gewesen bin. Dann fahre ich wieder hinunter und gehe auf der anderen Seite hinaus. Ich sehe Knut sofort.
Er hat Streit mit einem Straßenkehrer, die Lage sieht ernst aus. Der Mann hat seinen Besen zum Schlag erhoben, Knut ballt die Fäuste, beide sondern einen unaufhörlichen Strom von Schimpfwörtern ab. Das macht die Hitze, alle sind heute gereizt. Interessiert höre ich zu.
«Schweinvieh!», brüllt Knut.
«Dreckshund!», brüllt der Straßenkehrer.
«Scheißmaul!»
«Drecksau!»
«Sauschwein! Schwein! Schwein!»
Das gefällt mir, aber ich habe keine Zeit. Also nehme ich einen Schluck Kaffee, stelle den Becher auf den Boden und gehe auf Knut zu.
«Mieses altes fettes Schwein!», schreit Knut. «Glatzkopf! Scheißschwein!»
Ich schiebe ihn auf die Fahrertür zu, dann steige ich hinten ein.
Herrlich kühl ist es im Auto. Während Knut leise fluchend losfährt, vibriert mein Telefon. Ich sehe die Nummer und nehme das Gespräch beklommen an.
«Mutter?»
«Sei still, hör zu. Ich –»
«Wie läuft die Praxis?»
«Viel zu gut. Das ganze Land will von mir behandelt werden. Alles wegen der Sendung. Ich –»
«Sie ist ja auch sehr interessant, die Sendung.» Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen. «Wir versäumen keine Folge.»
«Ich bin Augenärztin. Von all den Krankheiten verstehe ich nichts. Ich sage den Leuten nur, sie sollen zum Arzt gehen.»
«Mir ist das nicht aufgefallen.»
«Ich wollte dir eine Investition vorschlagen.»
«Eine … Aha.»
«Es geht um ein Grundstück. Unterhalb meines … unseres Hauses. Jemand will es kaufen, um zu bauen. Wir müssen ihm zuvorkommen. Es würde die Aussicht ruinieren.»
«Ach.»
«Es wäre eine gute Investition.»
«Ich weiß nicht.»
«Was soll das heißen?»
Ich versuche, an die Minuten vorhin auf dem Teppich zu denken. An Sibylles Atem an meinem Ohr, an ihren Körper in meinen Armen, an ihr Haar und an ihren Geruch. Aber es hilft nichts. Ich müsste sofort wieder bei ihr sein, sofort wieder nackt auf dem Teppich, und wahrscheinlich würde nicht einmal das reichen.
«Warum sagst du nichts?», fragt Mutter. «Warum kann man nicht normal mit dir sprechen?»
«Ich höre dich nicht mehr!», rufe ich. «Schlechte Verbindung!»
«Ich höre dich gut.»
«Was sagst du?» Ich drücke die Auflegetaste.
«Schlechte Verbindung», sage ich zu Knut. «Man kann ja heute gar nicht mehr telefonieren.»
«Die gehören alle eingesperrt!»
«Wieso?»
«Die sind alle bestochen!»
«Wer?»
«Alle eingesperrt, habe ich gesagt. Alle bestochen!»
Das Telefon vibriert. Ich lege den Daumen auf die Auflegetaste, aber dann nehme ich doch an.
«Hörst du mich jetzt besser?», fragt sie. «Man kann ja heute gar nicht mehr telefonieren.»
«Die Verbindung war in Ordnung. Ich habe aufgelegt.»
«Hast du nicht.»
«Doch.»
«Du würdest nicht einfach auflegen, wenn du mit deiner Mutter sprichst. Du würdest das nicht tun.»
«Kauf das Grundstück selber. Du machst genug Geld mit der Sendung.»
«Aber es ist eine gute Investition.»
«Wie soll es eine gute Investition sein? Du sagst, ich darf nicht einmal etwas bauen.»
«Willst du mir die Aussicht ruinieren? Was willst du bauen?»
«Ich will nicht bauen! Ich will es gar nicht haben!»
«Schrei mich nicht an! Wenn deine Mutter dich bittet –»
Ich drücke die Auflegetaste. Nach wenigen Sekunden vibriert das Telefon wieder, ich ignoriere es. Dann überlege ich eine Weile, starre aufs Telefon, reibe mir die Augen und rufe zurück.
«Du hast aufgelegt!», sagt sie. «Ich weiß es. Leugne nicht!»
«Ich will es gar nicht leugnen.»
«Das würde ich auch nicht glauben.»
«So.»
«Mach das nie wieder!»
«Ich mache, was ich will. Ich bin erwachsen.»
Sie lacht höhnisch auf, mit zitternder Hand drücke ich die Auflegetaste.
Ich warte, aber sie ruft nicht mehr an. Zur Sicherheit schalte ich das Gerät aus. Mir fällt ein, dass Sibylle neulich etwas erstaunlich Richtiges über meine Mutter gesagt hat, was umso überraschender war, als sie ja nichts über meine Mutter weiß; es war offenbar so treffend, dass ich es sofort verdrängen musste, denn ich erinnere mich nur noch daran, dass es treffend war.
Knut beginnt, eine Geschichte zu erzählen, in der ein Marinesoldat, ein alter Affe und ein thailändischer Gärtner vorkommen, auch eine Gießkanne, ein Flugzeug und, wenn ich es richtig verstehe, ein Professor für Münzkunde. Ich nicke von Zeit zu Zeit und gewinne die Überzeugung, dass das alles auch dann keinen Sinn ergäbe, wenn ich aufmerksam zuhören würde. Als wir ankommen, ist es zehn nach vier. Die Konferenz hat schon begonnen.
Ich steige aus dem Wagen, gehe durch die Hitze in die kühle Lobby, betrete den Lift. Vielleicht haben sie ja doch auf mich gewartet.
Schon setzt sich der Lift in Bewegung. Er hält im dritten Stock, keiner steigt zu, und da ich nicht aussteige, steigt auch keiner aus. Kaum fährt er weiter, knicken meine Knie ein, und mein Kopf prallt an die Wand.
Ich höre etwas. Um mich ist es dunkel. Das, was ich höre, ist ein Schluchzen. Ich richte mich ein wenig auf. Nach und nach weicht der Schatten. Ich taste meinen Kopf ab: kein Blut. Jetzt sehe ich die schmutzigen grünen Faserchen des Teppichs. Der da schluchzt, das bin ich selbst. Ich weiß nicht, was, aber etwas Schreckliches ist geschehen. Etwas, das nicht hätte geschehen dürfen. Etwas, das nie wieder gut wird.