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Ich stehe auf. Es bin nicht nur ich, der schwankt, es ist auch die Kabine: siebter Stock, achter, neunter. So etwas ist mir noch nie zugestoßen. Ich wische mir die Tränen weg und sehe auf die Uhr, vierzehn Minuten nach vier. Merk dir den Tag, merk dir die Zeit: 8. August 2008, vierzehn Minuten nach vier. Was es ist, wirst du früh genug erfahren. Die Kabine hält, die Türen öffnen sich. Im letzten Moment, bevor sie sich wieder schließen, springe ich hinaus.

Eine Weile muss ich mich noch an die Wand lehnen, dann gehe ich benommen durchs Büro. Alles scheint anders als vorhin, jeder Tisch, jedes Gesicht, jedes Ding. Ich betrete das Konferenzzimmer und murmle eine Entschuldigung, denn sie haben natürlich ohne mich angefangen. Ich ziehe mein Jackett aus, werfe es über einen leeren Stuhl, setze mich und schaffe es wohl, so auszusehen, als wäre alles in Ordnung. Darin bin ich ja Spezialist.

Der Anblick meiner Mitarbeiter bedrückt mich noch mehr als sonst: all die Trägheit, all das Mittelmaß. Vermutlich liegt das auch daran, dass ich nur mittelmäßige Leute anstelle. Das Letzte, was ich brauche, ist jemand, der mich durchschaut. Lehmann und Schröter sind da, Kelling, dessen Tochter mein Patenkind ist, Pöhlke, den ich sofort entlassen würde, wenn er mir nur einen Grund gäbe, denn ich mag ihn einfach nicht. Maria Gudschmid ist da und auch der Kerl, dessen Name mir nie einfällt. Und Felsner. Ihn mag ich, aber ohne zu wissen, warum. Als ich hereingekommen bin, hat gerade Lehmann gesprochen. Jetzt sind sie alle still, sehen mich an und warten.

Ich hole Luft. Heiser bin ich, und mir ist, als müsste ich wieder in Tränen ausbrechen, aber irgendetwas muss ich doch sagen. Also stammle ich ein paar Sätze über angenehmes Arbeitsklima und die guten Dinge, die wir machen, und zitiere die Bhagavad Gita: Du stehst hier, Arjuna, also frage nicht, steh auf und kämpfe, denn Gott verabscheut die Lauen. Keine schlechte Ansprache, denke ich. Sie wissen nicht, dass sie bald arbeitslos sein werden, einige wird man als Mittäter verdächtigen, aber die Wahrheit wird ans Licht kommen: Sie sind nicht kriminell, nur unfähig.

Das mit Gott und den Lauen, sagt Maria Gudschmid, stehe aber nicht in der Bhagavad Gita, das sei aus der Bibel.

Die Gefahr, sagt Kelling, dass die mit Triple-A bewerteten Anleihen je signifikant verlieren könnten, sei praktisch zu vernachlässigen. Triple-A sei und bleibe klassisches Value Investing und damit risikofrei.

Ein Problem entstehe dadurch, sagt Pöhlke, dass die Investmentbanken bekanntlich in jene Positionen investierten, die sie kleineren Firmen aktiv zum Kauf anböten. Sie bestimmten somit selbst den Wert dessen, was sie verkauften, mit anderen Worten, sie entschieden autonom, wie viel Geld man ihnen schulde.

Irgendwann, sagt Felsner, werde es in den USA eine Sammelklage gegen dieses System geben. Aber im Augenblick könne man nur abwarten. Es gebe die Ankündigung, dass sich Krishnas nächster Avatar noch in diesem Weltalter zeigen werde.

Womit nicht ausgemacht sei, dass der Avatar ein Mensch sein müsse, sagt Maria Gudschmid.

Wenn man zum Beispiel signifikante Versicherungspositionen halte, sagt Lehmann, könne man gar nicht abschätzen, wie exponiert man im Fall eines Wertverlustes der großen Derivativkonglomerate sei. Es gebe einfach keinen Schlüssel für vernünftige Risikoeinschätzung.

«Klüssen will sein Geld abziehen», sage ich.

Auf einen Schlag ist es still.

Aber das sei doch hoffentlich noch nicht definitiv, sagt Felsner dann. Da könne man bestimmt noch etwas tun.

Es sei kein guter Moment, um den wichtigsten Account zu verlieren, sagt Maria Gudschmid.

Im Notfall gebe es Tricks, sagt Lehmann. Wenn zum Beispiel einer rechtlich angreifbaren Marktasymmetrie halber ein Vermögenswert nicht zuverlässig festgestellt werden könne, sei der Treuhänder berechtigt, die Mittel vorübergehend einzufrieren. Auch gegen den Willen des Eigentümers.

Reine Theorie, sagt Schröter. Kein Gericht werde dieses Argument akzeptieren.

Noch einmal zu dem Problem mit den Investmentbanken, sagt Pöhlke. Er schlage vor, ein paar von ihnen zu shorten, ohne großen Kapitaleinsatz.

Nur wer wage, sagt Lehmann, dem werde Krishna geben.

Mancher wage, sagt Pöhlke gereizt, und Krishna gebe nicht. Der Gott handle in Freiheit, denn er sei die Freiheit selbst.

Weshalb die Üblen manchmal alles bekämen, sagt Kelling, und die Besten nichts. Man könne das Risikopotenzial der niedrigeren Level im Hypotheken-Pool nicht gut abschätzen, und –

«Danke!» Ich stehe auf. Bis jetzt habe ich keine Miene verzogen, ich bin aufrecht sitzen geblieben und habe mir nichts anmerken lassen. Nun reicht es.

«Eine Frage noch», ruft Schröter.

Die Tür fällt hinter mir zu.

Auf dem Weg zum Lift denke ich darüber nach, wie sich feststellen lässt, ob man richtig verstanden hat, was man gehört zu haben meint. Aber wenn ich jemanden befrage, könnte er lügen, und selbst eine Tonaufnahme lässt sich manipulieren.

«Jetzt ist es passiert», sagt der Mann neben mir im Lift. «Jetzt geht es zu Ende.»

Er hat einen Hut und hässliche Zähne. Ich habe ihn heute schon gesehen, aber ich weiß nicht mehr, wo. Er sieht mich nicht direkt an, sondern spricht zu meinem Spiegelbild an der Rückwand der Liftkabine, sodass wiederum nicht er, sondern sein Spiegelbild mich unverwandt ansieht. Außer uns stehen noch zwei Männer mit Aktentaschen da, doch sie blicken vor sich hin und kümmern sich nicht um uns.

«Was haben Sie gesagt?», frage ich.

«Nichts», sagt er.

Ich wende mich ab.

«Manchmal ist jeder Weg falsch», sagt er.

Ich starre ihn an.

«Die Wahrheit macht dich frei», sagt er. «Schön wär’s. Aber manchmal macht einen gar nichts mehr frei. Das Lügen nicht und auch nicht die Wahrheit.» Er rückt mit einer gezierten Bewegung seinen Hut zurecht. «Im Grunde gibt es dann auch keinen Unterschied mehr zwischen den beiden, Iwan.»

«Bitte?»

Er runzelt die Stirn.

«Was haben Sie gerade gesagt?», frage ich. «Über Lüge und Wahrheit? Haben Sie mich Iwan genannt?»

Jetzt sehen mich die beiden Männer mit den Aktentaschen besorgt an. Ja, so geht es, so bringen sie einen dazu, die Nerven zu verlieren. Und ehe man sichs versieht, packt man jemanden und schreit und schlägt zu, und schon können sie Maßnahmen ergreifen. Aber so leicht mache ich es ihnen nicht.

«Entschuldigung», sage ich. «Ich habe mich verhört.»

«Glaubst du wirklich?», fragt der Mann mit Hut.

Der Aufzug hält, einer der Aktentaschenleute steigt aus, eine Frau in schwarzer Jacke kommt herein. Sie haben das gut vorbereitet, alles wirkt natürlich. Stundenlang könnte man zusehen, ohne Verdacht zu schöpfen.

«Du hältst das nicht mehr lang durch», sagt er.

Ich reagiere nicht.

«Lauf nur. Siehst fein aus in deinem Anzug. Lauf, so weit du kannst. Siehst mitgenommen aus.»

Ich reagiere nicht.

«Du musst wissen, heute ist kein Tag wie alle. Manchmal wird es leichter für uns. Der Tod bringt uns näher heran.»

Die Kabine hält, die Türen öffnen sich, ich gehe hinaus, ohne mich umzudrehen. Ich trete auf die Straße, die Hitze ist nicht mehr ganz so schlimm, bald wird es Abend sein. Knut sitzt im Auto, der Motor läuft. Wieso eigentlich? Habe ich ihm gesagt, er soll auf mich warten? Ich steige ein.

«Eine Frage», sagt er.

«Nicht jetzt.»

«Kommunalobligationen. Soll man, soll man nicht, wie sieht das aus?»

Wie kühl und still es im Wagen ist. Ein gutes Auto, sauber und vollgetankt, mit einem Chauffeur am Steuer, so etwas schenkt mehr Ruhe als die beste Religion.

«Weil nämlich», sagt Knut. «Meine Tante. Gestorben. Üble Sache. Ich habe es Ihnen ja erzählt. Die Baustelle, der Kran.»

«Ja, ich weiß.» Wie immer habe ich keine Ahnung.

«Aber es war auch ihre Schuld. Sie hätte sich dort nicht verstecken müssen. Hat sie ja keiner gezwungen, oder?»

«Nein.»

«Jedenfalls, keiner von uns hätte gedacht, dass sie hunderttausend Euro hat. Haben wir nicht gewusst. Vor allem nicht nach der Sache mit dem Wirt und den Einbrechern. Und auch weil sie so geizig war immer. Nie etwas zu Weihnachten. Oder den Kindern. Also jetzt, was tun? Wir haben diesen alten Kerl nebenan, sein Sohn ist bei der Bank. Ich mag ihn ja nicht. Er mag mich auch nicht. Erst recht nicht seit der Geschichte mit seinem Hund. Er hat behauptet, das Vieh wäre nicht bei uns im Garten gewesen, aber ich habe zwei Zeugen. Also: Kommunalobligationen. Hat sein Sohn empfohlen. Mitznik.»