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Ich konzentriere mich darauf, weiterhin aufmerksam zu blicken und mich nicht davon ablenken zu lassen, dass die Farbe aus allen Dingen gewichen ist und mein Gesicht sich anfühlt, als wäre es aus Watte.

«Antworte mir, Eric! Hör damit auf! Sag etwas!»

Aber als ich nach einer Antwort suchen will, weicht alles noch weiter zurück. Ich bin wieder im Keller, weit unten, tiefer noch als vorhin, und etwas kommt die Treppe herauf, jemand spricht. Wörter setzen sich zusammen, dunkel ist es, und auf mir liegt Zentnergewicht. Die Stimme kommt mir bekannt vor, und irgendwo öffnet sich ein Spalt Helligkeit. Das Fenster am Schreibtisch. Mir ist, als wäre viel Zeit vergangen, aber Laura sitzt noch da und redet.

«Fürs Erste kann alles weitergehen wie bisher», sagt sie. «Man kann tun, als wäre nichts. Wir fliegen nach Sizilien. Nächste Woche gehen wir gemeinsam auf den Empfang bei Lohnenkovens. Inzwischen kannst du dir eine Wohnung suchen. Wir müssen uns das nicht schwermachen.»

Ich räuspere mich. Bin ich wirklich ohnmächtig geworden, hier an meinem Schreibtisch, vor ihren Augen, ohne es mir anmerken zu lassen? Wer zur Hölle sind die Lohnenkovens?

«Von Scheidung rede ich noch nicht. So weit muss es nicht kommen. Aber wenn doch, müssen wir vernünftig sein. Du hast natürlich gute Anwälte. Das gilt für mich allerdings auch. Ich habe mit Papa gesprochen. Er steht hinter mir.»

Ich nicke. Aber wer sind sie nur, wer sind die Lohnenkovens?

«Na gut.» Sie steht auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und geht.

Ich öffne die Schublade und pflücke drei, vier, fünf Tabletten aus den Plastikbriefchen. Als ich das Zimmer verlasse, ist mir, als gehörten meine Beine einem anderen, als wäre ich eine Marionette, gesteuert von einem nicht sehr geschickten Puppenspieler.

Im Esszimmer sitzen alle noch am Tisch.

«Erledigt, dein Anruf?» Mein Schwiegervater lächelt mir zu.

Laura neben ihm lächelt auch. Die Schwiegermutter lächelt, die Schwester lächelt, die Töchter lächeln, nur Marie gähnt. Ich habe keine Ahnung, von was für einem Anruf er redet.

«Laura», sage ich langsam. «Haben wir gerade … Hast du …» Es könnte auch an den Tabletten liegen. Sie sind stark, und ich habe viele genommen. Ich könnte es mir eingebildet haben.

Oder? Ich habe die Tabletten doch Lauras wegen genommen. Wäre sie nicht zu mir gekommen, ich hätte nicht so viele Tabletten geschluckt. Also können die Tabletten nicht die Ursache dafür sein, dass ich mir einbilde, Laura habe Dinge gesagt, die mich dazu gebracht haben, die Tabletten zu nehmen. Oder?

«Schlechte Nachrichten?» Mein Schwiegervater lächelt noch immer.

«Du solltest dich hinlegen», sagt Laura.

«Ja», sagt meine Schwiegermutter. «Du bist blass. Geh lieber ins Bett.»

Ich warte, aber keiner sagt mehr etwas. Alle lächeln. Mit unsicheren Schritten verlasse ich das Zimmer.

Den rechten Fuß auf die erste Stufe und hinunter. Ich vermeide es, in Richtung der Kellertür zu blicken, denn ich weiß: Ist der Riegel nicht fest geschlossen, ja steht die Tür gar offen, bleibt mein Herz stehen. Ich gehe durch die Halle und öffne die Haustür.

Dunkel ist es, aber immer noch sehr heiß. Rechts neben mir, an die Mauer geschmiegt, kauert ein struppiges Fellwesen und sieht mich an. Sein Geruch ist beißend streng. Als ich stehen bleibe, springt es mit Bocksfüßen davon und verschwindet im Schwarz der Hecke.

Ich wuchte das Garagentor hoch. Knut hat schon Feierabend, ich muss selbst fahren. Das sollte ich vielleicht nicht in diesem Zustand, aber irgendwie wird es schon gehen. Mit tiefem Brummen springt der Motor an, und der Wagen rollt auf die Straße. Im Rückspiegel sehe ich mein Haus. Aus dem Fenster der Dachkammer dringt blasser Lichtschein. Wer ist da oben?

Aber schon bin ich um die Ecke.

Jetzt bloß kein Unfall, nicht nach all den Tabletten. Diesmal rufe ich Sibylle nicht an, ich will sie überraschen.

Und wenn sie nicht allein ist?

Der Gedanke durchschneidet meine Benommenheit. Der Wagen gerät in die Mitte der Straße, Hupen brüllen auf, aber ich bekomme ihn wieder unter Kontrolle. Wenn ein Mann bei ihr ist, muss ich ihn töten! Ich kurble am Lenkrad, und ein Müllcontainer aus gelbem Plastik gleitet mir in den Weg. Ich weiche aus, aber er prallt so fest gegen die rechte Flanke des Wagens, dass sein Deckel auffliegt und Pappkartons über die Straße segeln. Ich bremse, der Wagen steht. Fußgänger starren mich an. Auf der anderen Straßenseite hält ein Auto, zwei Männer steigen aus und kommen auf mich zu.

Schon will ich Gas geben und sie überfahren, aber genau auf so etwas haben sie es abgesehen, ich soll die Fassung verlieren. Die Fäuste geballt, steige ich aus.

«Brauchen Sie Hilfe?», fragt der eine.

«Sind Sie verletzt?», fragt der andere.

Ich laufe los. Ich renne durch eine schmale Straße, springe über den Absperrzaun einer Baustelle, klettere über eine Baggerschaufel und über noch einen Zaun und renne immer weiter, bis ich mich atemlos und mit stechendem Herzen umsehe. Niemand scheint mir zu folgen. Aber wie kann ich sicher sein? Sie sind so schlau.

Eine Fußgängerzone. Ich weiche zwei Frauen, einem Polizisten, zwei Jugendlichen, Adolf Klüssen und zwei weiteren Frauen aus. Klüssen? Ja, ich habe ihn deutlich gesehen, entweder war er es selbst, oder sie haben jemanden geschickt, der aussieht wie er. Unter einer Laterne taucht für einen Augenblick das Gesicht von Maria Gudschmid auf, aber das wenigstens hat nichts zu bedeuten, unzählige Frauen ähneln ihr. Ich lasse die Fußgängerzone hinter mir, überquere eine Straße, laufe eine schmale Auffahrt empor und erreiche Sibylles Haustür. Sie ist verschlossen. Ich drücke auf den Klingelknopf.

«Ja?» Ihre Stimme im Lautsprecher, und zwar so schnell, als hätte sie an der Tür gewartet – aber nicht auf mich, sie wusste ja nicht, dass ich komme, also auf wen sonst?

«Ich bin es», sage ich ins Mikrophon.

«Wer?»

Wenn sie mich jetzt nicht hereinlässt, wenn sie nicht sofort öffnet, wenn sie mich zwingt, auf der Straße stehen zu bleiben, ist es aus.

«Eric?»

Ich antworte nicht. Summend öffnet sich die Tür.

Jemand berührt meinen Arm. Hinter mir steht ein schmaler Mann mit langer Nase und dünnem Kinn. In der einen Hand hält er den Lenker eines Fahrrads, in der anderen eine schlaffe Einkaufstasche aus Plastik.

«Du hättest dich nicht einmischen sollen», sagt er. «Hättest du bloß die drei in Ruhe gelassen. Es war nicht deine Sache.»

Ich schlage die Tür hinter mir zu und laufe die Treppe hinauf. Wenn sie einen Mann bei sich hat, wenn sie einen Mann, wenn sie, wenn – ihr Stockwerk. Sie steht im Flur.

«Was ist denn los?», fragt sie.

«Das mit dem Auto hätte nicht passieren dürfen. Einfach so stehen gelassen. Wie sieht das denn aus!»

«Wovon redest du?»

«Ich muss es als gestohlen melden.»

Ich gehe an ihr vorbei in die Wohnung. Hier ist niemand. Sie ist allein. Ich sinke auf den nächstbesten Stuhl und schalte mein Telefon an. Neun Anrufe, drei von meinem Büro, sechs von daheim, drei Nachrichten. Ich schalte es wieder aus.

«Was ist passiert, Eric?»

Ich will antworten, dass gar nichts passiert ist, dass mir bloß alles zu viel wird. Ich will antworten, dass ich nicht mehr herausfinde. Aber ich sage nur: «War ein schwerer Tag.» Und während ich sie ansehe, wird mir klar, dass ich gar nicht bei ihr sein möchte. Ich will nach Hause.

«Ich wollte bei dir sein», sage ich.

Sie kommt näher, ich stehe auf und bringe es fertig, alles zu tun, was nötig ist. Meine Hände finden dorthin, wo sie sein sollen, meine Bewegungen sind die richtigen, und es gelingt mir sogar, ein wenig Freude darüber zu empfinden, dass sie das hier so sehr will und weich ist und gut riecht und mich vielleicht sogar ein wenig liebt.

«Ich dich auch», flüstert sie, und ich frage mich, was ich jetzt schon wieder gesagt habe.

Danach liege ich wach, höre ihrem Atem zu und blicke zur dunklen Fläche der Zimmerdecke auf. Ich darf nicht einschlafen, ich muss zu Hause sein, bevor der Morgen anbricht und Laura mir ihren Traum erzählt.