Lautlos stehe ich auf und ziehe mich an. Sibylle erwacht nicht. Auf Zehenspitzen schleiche ich aus dem Zimmer.
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Von der Schönheit
Haben Sie Carrières neue Ausstellung gesehen?»
«Ja, und ich bin etwas ratlos.»
«Ach.»
«Man sagt, er befragt unsere Sehgewohnheiten. Er sagt das ja auch selbst. In jedem Kunstmagazin sagt er das zurzeit. Aber im Grunde läuft es bei ihm auf die Erkenntnis hinaus, dass Bilder nur Bilder sind und nicht die Wirklichkeit. Auf die ist er stolz wie ein Kind, das entdeckt hat, dass es keine Osterhasen gibt.»
«Das ist böse.»
«Aber ich schätze ihn sehr.»
«Und das erst recht.»
Wir lächeln beide. Die Situation ist kompliziert. Es geht in meinem Beruf nicht bloß darum, Bilder zu verkaufen, es müssen auch die richtigen Käufer sein. Natürlich muss ich Eliza davon überzeugen, dass ihre Sammlung einen weiteren Eulenböck braucht, aber zugleich muss Eliza mich davon überzeugen, dass ihre Sammlung der richtige Ort für Eulenböck ist. Es werden nicht mehr viele Eulenböcks auf den Markt kommen, inzwischen interessieren sich die öffentlichen Museen für ihn, die zwar weniger bezahlen, aber das Renommee eines Künstlers enorm steigern können, was wiederum dazu führt, dass die Auktionspreise auf dem Sekundärmarkt in die Höhe schnellen. Man muss vorsichtig sein: Steigen die Preise zu schnell, fallen sie auch bald wieder, worauf es in den Magazinen heißt, der Markt habe sein Urteil gesprochen, und davon erholt sich der Ruf eines Künstlers nie. Eliza muss mich also davon überzeugen, dass sie das Bild, das ich ihr verkaufe, nicht sofort wieder abstößt, sobald dadurch Gewinn zu machen ist; sie muss mich von ihrem Ernst als Sammlerin überzeugen, so wie ich sie davon überzeugen muss, dass Eulenböcks Wert auf lange Sicht nicht fallen wird.
Über all das reden wir aber nicht. Wir sitzen jeder vor einem Teller Salat, nippen an unserem Mineralwasser, lächeln viel und sprechen über allerlei, nur nicht über das, worum es geht. Ich bin ein guter Nachlassverwalter, sie ist eine gute Sammlerin, wir kennen das Spiel.
Also sprechen wir über venezianische Terrassen. Eliza hat eine Wohnung in Venedig, von der aus man den Canal Grande sehen kann. Einmal war ich zu Besuch, doch es hat die ganze Zeit geregnet, Nebel kroch übers Wasser, und die Stadt schien träge, dunkel und faulig. Wir lachen über die Partys auf der Biennale, wir sind uns einig, dass sie anstrengend sind, laut, mühsam, eine wahre Zumutung, und doch müsse man hingehen, was bleibe einem übrig. Wir finden, dass große Schönheit überfordern kann: Hilflos stehe man ihr gegenüber, es scheine, als müsste man handeln, etwas tun, auf sie reagieren, aber sie bleibe stumm und weise einen in souveräner Langmut zurück. Selbstverständlich fällt jetzt der Name Rilke. Wir sprechen über seine Zeit bei Rodin, wir sprechen kurz über Rodin selbst, dann, es ist unvermeidlich, über Nietzsche. Wir bestellen Kaffee, keiner von uns hat den Salat aufgegessen, an einem so heißen Tag hat niemand Appetit. Und jetzt, da die Stunde sich ihrem Ende zuneigt, sprechen wir doch noch kurz über Eulenböck.
Schwierig, sage ich. Es gebe mehrere Interessenten.
Das könne sie sich vorstellen, sagt Eliza, aber wenn man einem Bild eine Heimat gebe, komme es auf die Umgebung an, die Nachbarschaft. Sie habe schon manches von Eulenböck. Daheim in Gent habe sie Werke von Richter, Demand und Dean, sie habe einiges von Kentridge und Wallinger, sie habe einen Borremans, dessen Stil ja dem Stil Eulenböcks nicht unähnlich sei, und sie habe etwas von John Currin. Außerdem habe sie ja das Glück gehabt, den Meister persönlich zu kennen – nicht so gut wie ich zwar, aber doch gut genug, um zu wissen, dass er kein Freund des Musealen gewesen sei. Sein Werk gehöre in die Mitte der Gegenwart, nicht in die Abstellkammern der Galerien.
Ich nicke unbestimmt.
Diese Hitze, sagt sie.
Sie fächelt sich mit der Hand Luft zu, und obwohl das Restaurant lautlose Ventilatoren hat, sieht die Geste nicht lächerlich bei ihr aus. Sie ist elegant, auf mühelose Weise. Würden mir Frauen gefallen, ich wäre verliebt in sie.
So ein Wetter, sagt sie, flöße einem von neuem Respekt ein vor der maurischen Kultur. Wie bringe man es fertig, eine Alhambra zu errichten, während man tödlicher Hitze ausgesetzt sei?
Andere Zeiten, antworte ich, hätten unsere Gattung robuster gesehen. Der Mensch sei nichts fest Definiertes, er entwerfe sich selbst. Die Marschrouten der römischen Legionen hätten Leistungen vorausgesetzt, die man in unserer Welt nur Olympiasiegern zutrauen würde.
Ein Gedanke, sagt sie, der Nietzsche gefallen hätte.
Aber einer, sage ich, den man nur als Gesunder denken wolle. Sobald ein Zahn schmerze, sei man heilfroh über Moderne und Entfremdung.
Wir erheben uns und umarmen einander schnell mit angedeuteten Küssen auf beide Wangen. Sie geht, ich bleibe und bezahle. Wir werden uns erneut treffen, demnächst zu einem gemeinsamen Abendessen, dann vielleicht zu einem Frühstück, dann wird sie mich in Heinrichs altem Atelier besuchen, und vielleicht ist dann der Moment gekommen, da wir tatsächlich über Geld sprechen.
Ich habe es nicht weit bis nach Hause, ich wohne neben dem Restaurant. Im Wohnungsflur bleibe ich, wie immer, vor der kleinen Tiepolo-Zeichnung stehen, froh darüber, dass ich etwas so Perfektes mein Eigen nennen darf. Dann höre ich den Anrufbeantworter ab.
Nur eine einzige Nachricht. Das Auktionshaus Weselbach teilt mit, ein Kunsthändler aus Paris habe für übernächste Woche einen Eulenböck in Auktion gegeben, Der alte Tod in Flandern, zum Glück ein eher unwichtiges Werk. Bisher keine Käufer-Anfragen, aber der Händler wolle das Bild nicht zurückziehen.
Nicht gut! Keine Anfragen im Voraus, das bedeutet, das Interesse bei der Versteigerung wird sich in Grenzen halten, und ich muss das Bild wahrscheinlich selbst kaufen, um Eulenböcks Wert zu stützen. Der Rufpreis liegt bei vierhunderttausend – viel Geld, für das ich nichts bekomme außer einem Bild, das ich vor sechs Jahren für zweihundertfünfzigtausend selbst verkauft habe. In diesem Jahr habe ich schon drei Eulenböcks kaufen müssen, und es ist erst August. Ich muss etwas unternehmen.
Ich rufe Wexler an, den neuen Chefkurator des Clayland-Museums in Montreal. Eigentlich will ich nur eine Nachricht hinterlassen, aber trotz der Zeitverschiebung ist er sofort am Apparat. Er habe den Büroanschluss aufs Mobiltelefon geschaltet, und nein, er schlafe nicht, das habe er sich abgewöhnt.
Wir plaudern eine Weile – übers Wetter, übers Fliegen von einem Kontinent zum anderen, über Lokale in Manhattan, Lima und Moskau. Ich warte darauf, dass er die Eulenböck-Ausstellung erwähnt, die er übernächstes Jahr machen will und die sehr wichtig für mich wäre, aber natürlich hätte er gern, dass ich als Erster danach frage, und so reden wir noch eine Viertelstunde übers Skifahren, über den neuen Film von Haneke und über Lokale in Paris, Berlin und Buenos Aires. Schließlich merkt er, dass das Stichwort nicht von mir kommen wird, und bringt die Sprache selbst darauf.
«Reden wir ein andermal darüber», antworte ich.
Er komme in zwei Monaten nach Europa, sagt er enttäuscht. Vielleicht könne man sich treffen. Zum Frühstück oder Lunch.
Wunderbar, sage ich.
Sehr schön, sagt er.
Großartig, sage ich.
Gut, sagt er.
Ich lege auf. Und plötzlich, ohne Anlass, ist mir, als sollte ich Eric anrufen. Ich sehe in meinem Adressbuch nach, ich kann mir keine Zahlen merken, nicht einmal die Nummer meines Bruders.
«Ja?» Seine Stimme klingt noch angespannter als sonst. «Was?»
«Ich dachte mir, ich sollte mal anrufen.»
«Warum?»
«Nur so ein Gefühl. Alles in Ordnung?»
Er zögert einen Moment. «Natürlich.» Es klingt nicht, als wäre alles in Ordnung, es klingt sogar, als wollte er mich wissen lassen, dass er lügt.