«Warum habe ich dann so ein Gefühl?»
«Vielleicht, weil ich heute mit dir … Ach so!»
Ich höre Gehupe und Motoren, und dann ist da ein Zischen: Ich glaube, er lacht.
«Ich hatte meiner Sekretärin gesagt, sie soll dich anrufen, aber sie hat … Stell dir vor, sie hat Martin angerufen!»
«Martin!»
«Wir waren mittagessen. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum.»
Ich erkundige mich nach seinen Geschäften, wie immer antwortet er ausweichend. Etwas ist nicht in Ordnung, er würde mir gern eine Frage stellen, aber er bringt es nicht über sich. Stattdessen erkundigt er sich nach meiner Arbeit, und obwohl sie ihn nicht interessiert, sage ich, dass man die Auktionshäuser im Auge behalten und die Preise kontrollieren muss. Er unterbricht mich auch sofort und fragt nach unserer Mutter, das leidige Thema, aber ich hake weiter nach.
«Irgendwas ist mit dir. Ich merke das. Du kannst es leugnen, aber –»
«Muss jetzt aufhören!»
«Eric, du kannst mir alles –»
«Alles in Ordnung, wirklich, muss jetzt aufhören.»
Schon hat er aufgelegt. Es ist seltsam, mit Eric zu reden, beinahe ein Selbstgespräch, und plötzlich wird mir wieder klar, warum ich ihn seit einiger Zeit meide. Es fällt schwer, vor ihm ein Geheimnis zu bewahren, er durchschaut mich, wie ich ihn durchschaue, und ich könnte nicht sicher sein, dass er es für sich behalten würde. Die alte Regeclass="underline" Ein Geheimnis bleibt nur dann eines, wenn wirklich niemand davon weiß. Hält man sich daran, ist es nicht so schwer zu bewahren, wie die Leute meinen. Man kann jemanden fast so gut kennen wie sich selbst, und man liest doch nicht seine Gedanken.
Das Gespräch mit Eric hat mich daran erinnert, dass ich unsere Mutter anrufen muss. Drei Nachrichten hat sie mir hinterlassen, da hilft nichts. Zögernd wähle ich ihre Nummer.
«Na endlich!», ruft sie.
«Ich hatte zu tun. Entschuldige.»
«Du hattest zu tun?»
«Ja, es fällt viel Arbeit an.»
«Mit deinen Bildern.»
«Ja, mit den Bildern!»
«Essen gehen.»
«Das gehört dazu. Besprechungen.»
«Besprechungen?»
«Was soll der Unterton?»
«Ich freue mich, dass du einen interessanten Beruf hast. Offenbar ernährt er dich ja. In jeder Hinsicht.»
«Was wolltest du eigentlich von mir?»
«Das Grundstück vor meinem Haus. Du weißt ja, das große, das von meinem Zaun bis zum Ende des Abhangs reicht, mit den vielen Birken. Es steht zum Verkauf.»
«So.»
«Stell dir vor, da könnte jemand bauen. Denn warum sonst sollte es jemand kaufen! Wer immer es kauft, wird doch bauen wollen.»
«Vermutlich.»
«Und meine Aussicht? Ich meine, unsere? Ihr werdet das Haus erben, dann ist die Aussicht auch für euch wichtig. Selbst wenn ihr es verkaufen solltet. Ihr werdet es ja verkaufen, keiner von euch wird hier wohnen wollen, nehme ich an.»
«Aber das dauert noch.»
«Hör auf damit.»
«Womit soll ich aufhören?»
«Ich wollte vorschlagen, dass du das Grundstück kaufst, bevor jemand anders zuschlägt und es bebaut. Damit erhältst du den Wert unseres Hauses. Es ist auch eine gute Investition.»
«Wieso ist es eine gute Investition, wenn ich nichts bauen soll?»
«Tu nicht so, als ob du etwas von Geschäften verstehst, du bist … Na, was auch immer du bist.»
«Ich bin jemand, der weiß, dass ein Grundstück, auf dem man nichts bauen soll, keine gute Investition ist.»
«Du könntest Getreide darauf anbauen.»
«Was soll ich mit Getreide?»
«Raps oder so etwas.»
«Ich weiß nicht einmal, was das ist!»
«Damit können Autos fahren.»
«Sprich mit Eric darüber. Er hat Geld, und vom Investieren versteht er viel mehr.»
«Aber ich habe dich gefragt.»
«Sprich mit Eric, Mutter. Ich habe jetzt zu tun.»
«Mittagessen?»
«Sprich mit Eric.»
Sie legt auf, und ich mache mich auf den Weg. Die Treppe hinunter, quer über den von der Sonne aufgeheizten Platz, zum Eingang der U-Bahn. Die Rolltreppe trägt mich ins kühle Zwielicht des Schachts.
Der Zug fährt sofort ein, der Waggon ist halb leer. Ich setze mich.
«Friedland!»
Ich sehe auf. Neben mir steht, die Hand am Haltegriff, der Kunstkritiker der Abendnachrichten.
«Sie hier?», ruft er. «Sie?»
Ich zucke mit den Achseln.
«Das gibt es ja nicht!»
Ich lächle. Hauptsache, er setzt sich nicht zu mir.
Er schlägt mir auf die Schulter. «Ist hier noch frei?»
Er hieß Willem und war ein flämischer Kunststudent, genialisch, laut, liebenswürdig, aufbrausend und leider nicht sehr begabt. Als Verehrer von Nicolas de Staël malte er abstrakt, was ich ihm vorwarf, ich nannte es feige und epigonal, weil ich Realist war, Verehrer von Freud und Hockney, was er mir vorwarf, er nannte es feige und epigonal. Wir stritten viel, wir tranken viel, wir nahmen Drogen in moderater Dosis, wir trugen Seidenhemden und ließen unsere Haare wachsen bis auf die Schultern. Kurz teilten wir ein Atelier in Oxford, das eigentlich nur ein Raum über einer Wäscherei war, er malte am Nord-, ich malte am Westfenster, es gab ein Klappbett, wir benützten es ausgiebig und kamen uns dabei vor, als sähe die Zukunft zurück auf uns, als hätten uns spätere Kunsthistoriker fest im Blick. Als er sein Studium abbrach, nannte ich ihn faul und brach meines nicht ab, weshalb er mich einen Spießer nannte.
In den Ferien wanderten wir durch das feuchte Grün von Wales, wir stiegen auf Hügel in der Dämmerung, wir suchten hohe Klippen und schroffe Schluchten auf, und einmal liebten wir uns auf einer runenbedeckten Steinplatte, was noch viel unbequemer war, als wir es uns vorgestellt hatten. Wir diskutierten, wir drohten einander, wir schrien, wir tranken zur Versöhnung und gerieten betrunken von neuem in Streit. Wir füllten Skizzenblöcke, wir wanderten bei Nacht, wir erwarteten in klammen Morgenstunden den Sonnenaufgang über der bleigrünen Fahlheit des Wassers.
Am Ende der Ferien kehrte ich zurück nach Oxford, und er fuhr nach Brüssel, um seinen Vater zu überzeugen, dass er ihm weiterhin Geld gab. Es war das Jahr 1990, das östliche Europa hatte sich befreit, und da man gerade noch keine E-Mails schrieb, schickten wir einander Karten, fast jeden Tag. Bis heute bin ich in Sorge, dass all meine Ausbrüche – all das Philosophieren, all die Romantik, Hoffnung und Wut – vielleicht noch in irgendeiner Schublade aufbewahrt sind. Seine Post habe ich, da es mir zu theatralisch vorgekommen wäre, sie zurückzuschicken, später vernichtet.
Denn als ich in den Ferien darauf nach Brüssel kam, merkte ich, dass etwas sich geändert hatte. Wir sahen aus wie zuvor, wir taten, was wir immer getan hatten, wir führten die gleichen Gespräche, aber etwas war anders geworden. Vielleicht lag es nur daran, dass wir so jung waren und befürchteten, etwas zu versäumen, doch wir hatten angefangen, einander zu langweilen. Um es auszugleichen, sprachen wir noch lauter und stritten noch mehr. Drei Nächte hintereinander blieben wir wach, im rhythmisch dröhnenden Flackern wechselnder Clubs, trunken von Müdigkeit und Aufregung, bis alle Orte zu einem Ort wurden und alle Gesichter in eins flossen. Irgendwann standen wir im Museum und stritten über Magritte, dann lagen wir wieder im Gras, dann waren wir in seiner Wohnung, und auf einmal hatten wir uns getrennt, wir wussten beide nicht, wie, und eigentlich auch nicht, weshalb es geschehen war. Willem warf eine Flasche nach mir, ich duckte mich, sie zerbrach über mir an der Wand, zum Glück war sie leer. Ich lief die Treppe hinunter, meinen Koffer hatte ich stehen gelassen, er schrie mir nach, seine Stimme hallte durchs Treppenhaus, dann schrie er aus dem Fenster, dass ich zurückkommen, dass ich mich ja nicht mehr blicken lassen, dass ich zurückkommen solle, und erst als ich seine Stimme nicht mehr hörte, fragte ich nach dem Weg zum Bahnhof. Eine Frau zeigte mir besorgt die Richtung, ich war wohl sehr blass, und plötzlich sah ich das Plakat. Es war noch dasselbe Foto, es war auch derselbe Wortlaut: Lindemann lehrt Sie, Ihre Träume zu fürchten.